Armut in Bayerns Hochglanzmetropole

München (taz) — Jeder zehnte Einwohner oder Einwohnerin der bayerischen Landeshauptstadt München lebte 1989 an der Armutsgrenze — Tendenz steigend. Das ist das alarmierende Ergebnis des Münchener Armutsberichts 1990, der gestern im Sozialhilfeausschuß des Münchener Stadtrates der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Die im Auftrag des Münchener Sozialreferats von der Gruppe für Sozialwissenschaftliche Forschung verfaßte Studie stellt eine Fortschreibung der Untersuchung „Neue Armut in München“ dar, die 1987 bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte. Seither — so die neue Studie — gab es einen drastischen Anstieg des „Armutspotentials“. Die Zahl der Menschen, die mit einem Nettoeinkommen von weniger als 530 Mark im Monat auskommen müssen — und damit als arm zu bezeichnen sind —, stieg zwischen 1986 und 1989 um 46 Prozent auf 122.000 an, während sich gleichzeitig die wirtschaftliche Entwicklung in München als positiv darstellte.

Zunehmend von Armut betroffen sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche, Migranten, alte Menschen (hier insbesondere Frauen) und Arbeitslose, die älter als 45 sind. Als Ursachen der zunehmenden Verarmungsprozesse wird auf die Lage auf dem Münchener Wohnungsmarkt verwiesen, wo die Mieten in den vergangenen zehn Jahren dramatisch angestiegen sind. Inzwischen geben in München, so die Untersuchung, 490.000 Haushalte zwischen 30 und 50 Prozent ihres Nettoeinkommens für Mieten aus, 15.000 Haushalte müssen gar mehr als die Hälfte ihrer Einkünfte für Wohnraum aufwenden. Während 7.000 dringend eingestufte Anträge auf Sozialwohnungen vorliegen, nimmt die Zahl an Sozialwohnungen weiter ab.

Auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt trägt weiter zur steigenden Armut bei. Obwohl die Gesamtzahl der Arbeitslosen in München seit 1988 rückläufig ist, stieg die Zahl der Langzeitarbeitslosen deutlich an. Wer über 45 ist, zählt für den Arbeitsmarkt zum alten Eisen. Das Niveau von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe lag bei der Hälfte der Arbeitslosen unter dem Sozialhilfesatz.

Während das Münchener Sozialreferat das Versagen der Systeme sozialer Sicherung kritisch zur Kenntnis nimmt, blieben die Vorschläge auf der Ebene „kompensatorischer Maßnahmen im Bereich der Sozialarbeit, der Infrastrukturpolitik und der Arbeitsförderung“ stecken. Statt dessen nehme der Münchener Sozialreferent Stützle die Debatte im Sozialhilfeausschuß zum Anlaß, die Armutsdiskussion mit den kommunalen Problemen bei der Unterbringung von Flüchtlingen zu verquicken. So blieb die seit langem notwendige Diskussion über tatsächliche Problemlösungsstrategien einmal mehr im parteipolitischen Gezänk, ob das Boot denn voll sei, weitgehend stecken. Johannes Zerger