: Honecker-Diktatur — wer glaubt uns das?
■ Kontroverse über Seebacher-Brandts Buch »Die Linke und die Einheit«/ Das Verhältnis der Sozialdemokraten zur Wirklichkeit
Berlin. »Eigentlich« könnte man sich auch über die Linke und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit auseinandersetzen, beginnt Brigitte Seebacher- Brandt ihre Rede vor über 100 Sozialdemokraten, die ins August-Bebel- Institut in der Fasanenstraße gekommen sind. »Eigentlich« — denn an diesem Mittwoch abend geht es nur um einen kleinen Ausschnitt dieses Themas: »Die Linke und die Einheit« — so auch der Titel des gerade erschienenen Buches von Seebacher- Brandt. Die These der Autorin: Die deutsche Linke, insbesondere die SPD, habe an den historischen Ereignissen der deutschen Einheit vorbeigedacht, -geredet und -geschrieben.
Die Historikerin sieht die Ursachen für die Wirklichkeitsfremdheit in der Entwicklung der SPD nach 1945. Die Partei sei zwar bis in die 60er Jahre nationaler als die CDU und Adenauer gewesen und auch die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition sei zu Beginn von einem nationalen Impuls getragen worden. Doch damit habe eine zweischneidige Entwicklung begonnen. Auf der einen Seite hielten die beiden deutschen Staaten durch eine Fülle von Kontakten zusammen, auf der anderen habe sich im Bewußtsein derjenigen, die nicht mit dem Mauerbau und der Blockade großgeworden waren, das Bild der deutschen Teilung verfestigt. Noch 1989 habe Grass geäußert, daß das deutsche Volk durch Auschwitz ein Recht auf Einheit verwirkt habe.
Walter Momper, zweiter Podiumsgast, teilt Sebacher-Brandts These nicht: »Keiner war auf die Einheit vorbereitet.« Auch das 10-Punkte-Programm von Bundeskanzler Kohl vom November 1989 sei nicht von einer schnellen Vereinigung ausgegangen. Die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft habe versagt. Eine Frau in den 30ern glaubt, nur wenige Menschen in der DDR hätten die Vereinigung gewollt, die meisten seien durch Flugblätter aufgehetzt worden. Das Publikum lacht, »Unsinn, aufhören«, brüllt eine Frau.
Wenn das stimmen würde, daß sich die Menschen mit der Einheit so schwergetan hätten, unterstellt die Buchautorin, dann hätte es die Einheit nicht gegeben und Kohl wäre nicht als Sieger aus der Bundestagswahl hervorgegangen. Der »Einheits-Kanzler« habe aber bereits am 19. Dezember 1989 in Dresden begriffen, was die Mehrheit der Deutschen wollte.
Momper, damals Berlins Regierender Bürgermeister, widerspricht, denn die SPD habe sich schon zwei Monate später in Ost-Berlin für die Vereinigung ausgesprochen. Doch ein Parteimitglied in den 60ern kontert, daß die CDU nicht so nonchalant über die Einheit geredet habe »wie Sie oder Lafontaine« — das Wahlergebnis im Dezember 90 sei die Quittung gewesen. Doch für Momper ist das keine Wahrnehmungskrise der Linken. Wenn die Rechten die Bedürfnisse der DDR- Bürger tatsächlich besser erkannt hätten, hätte Strauß damals den Milliardenkredit nicht eingefädelt. So aber habe die CDU/CSU die Zahlungsunfähigkeit — und damit die Einheit — hinausgezögert.
Immer wieder wird aus dem Publikum die Vermutung geäußert, daß es der Linken gar nicht um Pro oder Contra Einheit gegangen sei, sondern darum, den Menschen im Ostteil aus der wirtschaftlichen Misere zu helfen und ihnen mehr Freiheiten zu verschaffen. Auch Momper bestätigt, sein Maßstab sei das Selbstbestimmungsrecht der Menschen gewesen. Doch Seebacher-Brandt versteht diese Aufteilung nicht. Denn wer gewollt habe, daß es den Menschen in der DDR besser gehe, hätte den Weg zur Einheit beschreiten müssen — die Bundesrepublik sei ein demokratisch erfolgreiches Staatswesen.
Ein Sozialdemokrat bemängelt, daß die Linke in der Auseinandersetzung um die Vereinigung an Vertrauen verloren habe. Früher hätte die SPD die sozialistisch genannten Staaten mit Brüderküssen überschüttet — heute rede man von Honecker- Diktatur: »Wer glaubt uns das?« Wenn man die DDR als Staat von sowjetischen Gnaden betrachtet habe, so Seebacher-Brandt, müsse es zu denken geben, daß man führende deutsche Staatsmänner vor Gericht sehen wolle, in Moskau aber auf »gut Wetter« mache. Dirk Wildt
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