Revolution in Beton und Eisen

■ Aus einer Neuerscheinung von Briefen des virtuosen Architekten Erich Mendelsohn

Florenz, 13. Oktober 1911: ... Gestern war ich in Michelangelos Haus, und heute sah ich noch einmal alle seine Werke.

Die Alltagsstätten großer Menschen dürfen nicht zur Schau gerichtet werden. Es ist zuviel Heiligkeit um sie. Wer einen großen Geist liebt mit der ganzen Begeisterung seines eigenen Willens zu hören, dem ist jeder noch so geringe intime Vorgang und Örtlichkeit vielleicht lieber als seine Werke. Lieben heißt eins sein, und jeder liebe Gedanke knüpft sich an irgend etwas Greifbares, mit dem er im ursächlichen Zusammenhang steht.

München, 4. Januar 1914: Sie begehen einen großen Fehler. Solange Sie noch glauben, daß Kunst etwas mit Schönheit zu tun hat oder mit irgend sonst einem ästhetischen Begriff, so lange können Sie frühere und jetzige Schöpfungen, können Sie die ganze Geschichte der Menschheit, an den Werken der Künstler abgesehen, nicht von Grund aus begreifen.

Gesetz für die Bedeutung eines Kunstwerkes ist nur der Wille des Künstlers, der sich eben in seinem Werk ausdrückt, nicht aber seine Wirkung (schön oder häßlich, groß oder klein) auf uns.

München, 14. März 1914: Jeder Baustoff hat wie alle Materie bestimmte Bedingungen, über die hinaus er nicht beansprucht werden darf. Er hat Grenzen.

Er ist hauptausschlaggebend für die Konstruktion und die struktive Form, die der Künstler seiner künstlerischen Absicht gemäß hervorbringen muß.

Wie der Baustoff die Form verlangt, die seine technische Potenz voll ausnützt, damit die latenten Formmöglichkeiten ans Licht bringt, so wird ein bestimmter, bewußt schaffender oder intuitiv sicherer Formwille sich den Baustoff wählen, durch den dieser Wille bestmöglich zur Tat wird. Diese gilt heute mehr denn je, da wir nicht an den bodenständigen Baustoff gebunden sind, sondern uns jeden mit verhältnismäßig geringem Aufwand herbeischaffen können. Diese reiche Auswahl verpflichtet den Künstler zu um so strengerer Auswahl, zu um so strengerer Selbstzucht zum Besten des Kunstproduktes.

Nichts ist dilettantischer und mehr verwerflich, als Formen festliegender Baustoffgedanken durch andere, den Formen widersprechende, ersetzen zu wollen. Das heißt vortäuschen, Kunst und Wahrhaftigkeit aber ist ein Gebot und oberstes Gesetz.

(...) Die große Revolution, die die Technik des Eisens in ihrer mannigfachen Gestaltung auf die gesamte Baukunst hätte ausüben müssen, die sie aber nur in ganzer Größe auf eben das spezielle Gebiet der Bautechnik infolge eines so furchtbaren Niveaus künstlerischen Erkennens und seiner Formgewalt ausüben konnte, wurde eben zu ihrer Zeit nach Ursache und notwendiger Folgerung nicht so verstanden, daß nunmehr die unbegrenzte Möglichkeit gegeben war, Schaffender zu sein, das heißt Neues zu gestalten, dem neuen Baustoff die Form zu geben, die er erwartete und die nur er hervorbringen konnte...

Diese Form- und Strukturänderung bereitet sich vor, wir erleben augenblicklich den Übergang und ihr Erwecken, gleichgültig, ob die staatlich Genehmigten und Professoren »Stilkunde« treiben und langsam ihr letztes Tröpfchen zähen Marks hervorholen.

Das Eisen in Verbindung mit Beton, der Eisenbeton, ist der Baustoff unseres neuen Formwillens, des neuen Stils. Seine neue statische Potenz, fast gleichmäßig auf Zug und Druck beansprucht werden zu können, wird eine neue, seine Logik statischer Gesetze zur Folge haben, seine Logik der Form, seine Harmonie, seine Selbstverständlichkeit.

Die Beziehungen zwischen Tragen und Lasten — dieses scheinbar für immer feststehende Gesetz — werden auch ihr Bild umdeuten müssen, da nunmehr sich selbst trägt, was früher gestützt werden mußte. Mauern sind statisch gesichert, ohne daß die Last des Daches drückt und sie zusammenhält. Decken über unseren Köpfen, Gewölbe spannen sich, ohne daß Zwischenstützen notwendig sind, Türme staffeln sich und wachsen aus sich heraus, selbst Kraft und Geist und Seele.

Jerusalem, 30. August 1937: Die große Moschee ist eine byzantinische Kirche, der große Hof mit den Galerien der Kreuzgang des Konvents. Als sie noch Kirche war, bedeckten sie wunderbare Mosaiken der Gartenlandschaft von Damaskus. Später mit vollfarbigen frühen Kalifenkacheln auf den antiken Steinen der Außenfassade.

Die Proportionen des Hofes sind weit hinter dem Tempelplatz. Die Geschichte wird erst mit tausend Jahren wunderbar, Hunderte riechen noch zu sehr nach Blut.

Die Strenge der frühen christlichen Kirchen spiegelt die Entsagung des Harems — alle Antike den Lustsaal der Götter, die himmlische Freiheit der Natur. Hier ist keine Mystik wie in Jerusalem, sondern ein Siegel einer geschichtlichen Eroberung. Als solches starr trotz der stilistischen Überlagerungen.

Auf dem Weg nach Grand Rapids, 27. Januar 1950: ... Das Essen im Cliff-Dwellers Club mit den Fakultätsmitgliedern, mit Mies und Hilberseimer war angenehm, schmeichelnd, und meine Erwiderung auf die Rede des Vorsitzenden wurde gut aufgenommen. Nach dem Essen zeigte uns Mies seine Universitätsbauten und Wohnhäuser.

Er hat seine Formel gefunden und hat anscheinend vor, dabei zu bleiben bis zum Ende. Blockig und akademisch, ein Kanon von Details, ein starres System von Prizipien, die schnell und schmerzlos die neue Hoffnung auf eine freie Humanität umbringen werden...

Im Zug zwischen Cleveland und New York, 31. Januar 1950: ... Die Mies-Gebäude in Chicago, wenigstens von außen, eine große Enttäuschung. Preußische Strenge ohne den Charme Schinkels, ein klarer Himmel ohne Sonne und tot wie Julius Cäsar...

Nach dem Vortrag Empfang in Mies' Wohnung, weiß und schwarz, die Wände voll von Klees Esoterik... Seine Tochter aus Deutschland ist bei ihm, ein scheues, aber hilfreiches Mädchen in Esthers Alter. Er baut eine Menge nach dem Prinzip, das der frühe Albert Kahn vor zwanzig Jahren schon aufgab. Er ist stolz auf seine klarlinigen Formen, ohne zu merken, daß er in einem Engpaß ist, von dem aus es nicht weitergeht.

Der Vorsitzende, Mr. Albert, telegraphierte um die Erlaubnis für mich, die Gemeinde nach dem Freitagabend-Gottesdienst von der Kanzlei aus anzusprechen. Ich folgte den alten Gebeten genau, dem Rabbi, der aus der Thora das Kapitel von Salomo und seinem Architekten Bezalel las, den er engagiert hatte, obgleich dieser aus Tyros in Phönizien kam.

Ich war plötzlich gepackt vom »Schemah Jisra'el Adonai Echat« dem einzigen Gott, das grundlegende System des Monotheismus. Das wurde mein Thema. Einsteins allgemeine Feldtheorie, das eine Gesetz, das alles bestimmt, die kosmische Verbindung von Masse und Energie. Die Einheit der Schöpfung, die jeder Schöpfer, Gott oder Architekt, fühlen muß, in sich haben muß, um den Namen Künstler zu verdienen. Ich versuchte, die Relativitätstheorie und die allgemeine Feldtheorie in einigen allgemeinen Sätzen zu erklären: gefunden von einem Juden, einem Monotheisten, als wissenschaftliches Äquivalent des Einen Gottes, des Einen Gesetzes, das die Welt in ihrer Gesamtheit beherrscht. Die Opposition wurde zum Schweigen gebracht, schwieg und — wir bekamen den Auftrag, mit den Plänen weiterzumachen. Ein großer Erfolg, weil jenseits der kleinlichen Streitigkeiten...

Texte aus dem erschienenen und angezeigten Buch