Heinrich Heine — „Dichterjude“

Eine Schmähung und ihr aktuelles Verschweigen  ■ Von Michael Rohrwasser

In unseren Ohren klingt es grotesk und gestrig, wie der ehemalige Liberale und Oppositionelle Wolfgang Menzel, der Heinrich Heine einst gegen Feinde verteidigt hatte, in seiner Literaturgeschichte von 1875 vor dem „Dichterjuden“ warnt, mit dem beschwörenden Blick auf die „Physiognomie eines aus Paris kommenden [...] durch Lüderlichkeit entnervten Judenjünglings mit spezifischem Moschus- und Knoblauchgeruch“.

Indessen sind die antisemitischen Attacken auf Heinrich Heine (die Titel tragen wie: „Fort mit der Schmach eines öffentlichen Heine- Denkmals!“) umlagert von einem sehr viel weiteren Kreis scheinbar sachlichen Widerstands gegen den Dichter, der beispielsweise die Benennung der Düsseldorfer Universität nach dem berühmtesten „Sohn der Stadt“ verhindert hat. Unter diesen subtileren Kritikern gibt es auch Verteidiger Heines, die ihn vor antisemitischen Attacken in Schutz nehmen. Karl Kraus gehört dazu, der in der 'Fackel‘ die Pfaffen und Literaturprofosen aufs Korn nimmt, die „wieder einmal vom Ekel über den echt jüdischen Zynismus und die französelnde Frivolität Heines überwältigt werden“ (1906), Walter Muschg, der in Tragische Literaturgeschichte schreibt, es sei „naiv, in ihm nur den Juden zu sehen“ (1957), oder die jüdische Schriftstellerin Fanny Lewald, in deren Porträt von Heine in der Matrazengruft (1886) es heißt: „Er muß gut ausgesehen haben. Die Gesichtsbildung war edel und fein, von dem jüdischen Nationaltypus kaum eine Spur, auch nicht in den Zügen und im Mienenspiel.“

Es gehört nicht viel detektivischer Spürsinn dazu, um in diesen Verteidigungen das Ambivalente zu spüren. Der Schatten des „Juden“ wird beschworen; das Dementi ist weniger aufschlußreich in dem, was es leugnet, als in dem, was es verrät.

In seiner Studie über die antisemitische Rezeption Heines geht der kanadische Germanist Paul Peters einer „Ätherisierung“ des „antisemitischen Giftes“ nach. Die entscheidenden Denkfiguren der antisemitischen Kritiker, so Peters' These, werden in subtilerer Gestalt salonfähig. Dazu trägt bei, daß manche der Antisemiten den Dichter keineswegs verkannt und mißverstanden haben (Treitschke erfaßte Heines Wintermärchen besser als Franz Mehring); ihre Apperzeption mündete jedoch nicht in Annäherung, sondern in Vernichtungswillen: das, was sie in Heine „erkennen“, wollen sie wieder verschwinden machen. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ — Peters: „Im Falle Heines stiften das Bleibende weniger die Dichter als [...] die Antisemiten.“

Peters begibt sich auf Spurensuche in einem scheinbar erforschten Gelände. Solche „kartographierten Gebiete“ sind freilich vermint; die Wegweiser der Autoritäten sind eingerammt, Trampelpfade angelegt, und Gegenstimmen müssen sich gegen wortgewaltigen Common sense durchsetzen. Dazu zählt ein so vielfach paraphrasiertes Wort wie das von Karl Kraus, Heine habe der deutschen Sprache das Mieder gelockert. Infiziert der „lüderliche Judenjüngling“ die deutsche Sprache mit der Franzosenkrankheit? Gerade Kraus hat dem Vorurteil gegen Heine bis heute Argumente geliefert; der Literaturhistoriker Greiner nennt die Kraussche Heine-Kritik „sublim“, und noch Adorno verbeugt sich vor Kraus mit der Feststellung, daß dessen Heine-Verdikt „sich nicht auslöschen“ lasse. Kraus' Schrift Heine und die Folgen ist das unwahrscheinliche Amalgam eines — nicht zuletzt an Heine geschulten — stilistischen Glanzes mit den rüden Thesen des deutschen Antisemitismus. Das jedenfalls ist Paul Peters' These; er konstatiert die Verinnerlichung des Antisemitismus durch seine Opfer, jenen „jüdischen Selbsthaß“, als dessen „leuchtendes Beispiel“ Theodor Lessing in seinem gleichnamigen Buch Karl Kraus benannte.

Nicht Rassismus spricht aus Kraus' Affekt gegen Heine, aber der Assimilationswillige visiert den „jüdischen Typus“ an, den Feuilletonisten und Lieder-Händler (auch bei Kraus' Kollegen Egon Friedell ist, am Rande bemerkt, viel Gehässiges über den „jüdischen Geist“ zu finden). Kraus macht Heine zum mystischen Urheber jener zeitgenössischen Gesellschafts- und Kulturentwicklung, die ihm, Kraus, nicht behagt, deren „Zersetzung“ er verfolgt: „Ohne Heine kein Feuilleton“. Heine wird zu einem Chiffre, zum Sündenbock für die Entstehung und Übermacht der verhaßten industriell-kapitalistischen Zivilisation.

Heine habe nur noch „skandierten Journalismus“ produziert, sei ein eilfertiger Lieferant des verdorbenen Zeitgeschmacks mit „Operettenlyrik“ (schreibt ein Liebhaber der Operette); seine Verse seien beliebig herstellbar und austauschbar, wie in der Gesellschaft der Massenfabrikation die Produkte, Menschen, Werte und Erfahrungen. Kraus beklagt sich über die Liquidierung der Einmaligkeit in Heines Gedichten, über die fehlende Echtheit, indem er das Spezifische Heines verleugnet und die durchkomponierte Bilanz von Verhöhnung und Sentiment, Ernüchterung und Ergriffenheit beim jungen Heine destruktiv verkennt und leugnet, sie zur beliebigen und übertreffbaren Schablone macht. Er macht Heine für seine Epigonen verantwortlich (das ist so, als müßte Kraus für Uwe Nettelbecks Republik haften). Wenn Richard Wagner weiß, daß „der Jude“ als Künstler nicht vermöge, „auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen“, so heißt das bei Kraus: Heine „hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist; höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird“.

Liest man noch einmal Kraus' Essay Heine und die Folgen, dann ist Elias Canettis Kraus-Erinnerung eindringlich beschworen: „Jedes Urteil war auf der Stelle vollstreckt. Einmal ausgesprochen war es unwiderruflich. Wir alle erlebten die Hinrichtung [...]“ Canetti schreibt weiter, er habe als Kraus-Jünger unter einer Diktatur gelebt: „Und wenn ich auch nicht, wie es in späteren Diktaturen üblich wurde, an die Ausrottung des vermeintlichen Ungeziefers ging, so hatte auch ich [...] meine ,Juden‘, Menschen, von denen ich wegsah, [...] deren Berührung mich verunreinigt hätte, die ich allen Ernstes nicht mehr zur Menschheit zählte: die Opfer und die Feinde von Karl Kraus“ — ein Bild, das auch auf den heutigen intellektuellen Umgang mit Intellektuellen verweist, auf unsere unschuldige Freude am „Verriß“.

Eine effektive Variante des Verrisses ist das Totschweigen. Das Ratespiel ist einfach: Ein aufregendes Buch, ein widerspenstiger Essay (stilistisch brillant, an manchen Kanten fast zu schön geschliffen) zu dem bedrohlichen Thema, wie der Antisemitismus in der Rezeption Heines sich transformiert, 1990 erschienen, in einem entlegenen Verlag, hat bisher nur eine einzige Besprechung (im 'Südkurier‘ vom 7.1.91) erhalten. Das (Goethe-)Motto des Buches ist auf sein Thema gemünzt; inzwischen gibt es einen zweiten Adressaten, den Rezensionsbetrieb: „Worin besteht die Barbarei anders als darin, daß man das Vortreffliche nicht anerkennt?“

Paul Peters: Heinrich Heine „Dichterjude“ · Die Geschichte einer Schmähung. Verlag Anton Hain, Frankfurt a.M. 1990, 271 S., geb., 38 DM