Zerfallstendenzen-betr, Jugoslawien-Berichterstattung Seite 9 und "Pommes allein machen noch keinen Staat" (Belgien), taz vom 22.11.91

betr.: Jugoslawien-Berichterstattung Seite 9 und „Pommes allein machen noch keinen Staat“ (Belgien), taz vom 22.11.91

Die Zerfallstendenzen in Belgien und der Zerfall Jugoslawiens — zu denen sich noch entsprechende, mehr oder weniger dramatische Vorgänge in anderen Ländern Europas, zum Beispiel Tschechoslowakei, hinzufügen ließen, von der Sowjetunion ganz zu schweigen — zeigen, daß der überkommene Nationalstaat zunehmend infrage gestellt wird. Die Hauptursache hierfür scheint darin zu liegen, daß die Formulierung und Durchsetzung von politischen Interessen durch unkontrollierbare Eliten in zentralen Instanzen, einer kalten Staatsräson und weniger den konkreten Bedürfnissen von Menschen verpflichtet, auf deren wachsenden Widerwillen stößt.

Als grundlegende Antwort auf dieses Problem scheint sich immer mehr die Ansicht zu verbreiten, regional-nationalen, bürgernäheren politischen Einheiten sei Souveräniität zu geben; sie könnten besser als Zentralregierungen größerer Staaten die Interessen ihrer Bevölkerung wahrnehmen. Eine derartige Entwicklung könnte sich vor dem Hintergrund der folgenden Überlegung durchaus als sinnvoll erweisen: Sehr bald werden die Regierenden solcher kleiner Regionen die Notwendigkeit von Beziehungen untereinander auf den Gebieten Wirtschaft, Technologie, Ökologie, Verkehr und so weiter erkennen und diese mit Hilfe staatenbündischer (konföderativer) Einrichtungen aufbauen.

Ansätze zu einer derartigen Struktur zeichnen sich ja bereits in der vergehenden UdSSR ab; auch die in der Diskussion befindliche völkerrechtliche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens deutet auf eine solche Entwicklung hin; und bald könnten eine autonome wallonische, flämische und Brüsseler Region die etablierten Staaten Westeuropas mit den ersten Anzeichen des Entstehens einer Konföderation aus Konföderationen konfrontieren, die schon vor mehr als 100 Jahren Pierre-Joseph Proudhon als für Europa geeignetstes politisches System benannt hat. Chauvinistische oder gar faschistische Tendenzen lassen sich übrigens in einer derartigen vielgliedrigen Struktur im Zaum halten und auf Dauer wieder zum Verschwinden bringen, im Gegensatz zu der zur Zeit angestrebten Europäischen Union, die zu einer unitarisch-zentralistischen Großmacht Europa führen kann. Lutz Roemheld, Fröndenberg