AIDS 1991 — kein Anlaß zur Hoffnung?

Es gibt neben AIDS keine andere Krankheit, die derart von Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist. Warum eigentlich? Zum Welt-AIDS-Tag ein Beitrag, der aus dieser düsteren Sicht ausbricht und Mut macht. Und Mut und Hoffnung sind die beste Medizin für unser Immunsystem.  ■ VON CHRISTOPH ZINK

Wenn wir am Welt- AIDS-Tag auf etwa ein Jahrzehnt mit der neuen Krankkheit zurückblicken, werden sich wohl auch dieses Jahr alle Beteiligten einig sein, daß es weiterhin wenig Anlaß zur Hoffnung gibt: Die Epidemie hat in einigen Ländern der Dritten Welt längst die Ausmaße einer bevölkerungsweiten Kastastrophe angenommen, die Lage der Betroffenen ist auch in den entwickelten Ländern schwierig, und eine medizinische Lösung des Problems schimmert nur ganz fern am Horizont. HIV und AIDS gelten, da sind sich alle ganz ungewöhnlich einig, als besonders schlimme, sehr spezielle Katastrophen auf der Welt und im Leben jedes einzelnen Betroffenen. Fast zehn Jahre lang haben wir uns — über alle politischen und weltanschaulichen Differenzen hinaus — diese Sicht der Krankheit angewöhnt. Sie prägt unsere Aufklärungskampagnen, unsere Projekte und unser Selbstverständnis: Wer HIV oder AIDS hat, trägt ein besonders schlimmes und besonders hoffnungsloses Schicksal.

Seit ich von meiner eigenen HIV- Infektion weiß, hatte ich häufig Anlaß mich zu fragen, wie zutreffend wir die Katastrophe damit eigentlich kennzeichnen. Vieles, das mir seitdem begegnet ist, erwies sich bei näherem Hinsehen als gar nicht mehr so selbstverständlich. Mir scheint heute vieles, das uns bei HIV und AIDS besonders schlimm vorkommt, tatsächlich nur wenig anders zu sein als viele Situationen, in die wir Menschen heute geraten können. Das „Besondere“, der Unterschied zwischen AIDS und den anderen Gesundheitsgefahren, läge dann viel eher darin, daß uns bei HIV und AIDS Risiken und Realitäten sehr greifbar bewußt werden, die uns in anderen Zusammenhängen nur einfach bisher nicht bewußt sind.

Es scheint mir aus zwei Gründen lohnend, unsere gängigen Vorstellungen über HIV und AIDS kritisch zu überdenken:

Erstens macht es für uns, die infiziert sind oder AIDS haben, einen gewaltigen Unterschied, ob wir unser Risiko oder unser Kranksein als einen besonderen Nachteil und als besonders hoffnungslos erleben, oder ob es uns gelingt, unsere eigene Lage mit der anderer Menschen in ein realistisches Verhältnis zu bringen. Wir verlieren viel weniger leicht den Mut, wenn wir uns nicht darin bestärken, wie ungewöhnlich schwer und hoffnungslos unsere Lage sei. Ich denke, wir werden dann aber auch feststellen, daß selbst in unserer Lage viel mehr Anlaß zur Hoffnung ist als unsere Umwelt und wir selbst uns bisher einräumen.

Zweitens bedeutet es für uns als Gesellschaft, für unseren Umgang mit der neuen Situation und unser Reagieren auf HIV und AIDS, einen großen Unterschied, ob wir darin eine isolierte Katastrophe sehen, oder ob wir AIDS als ein Problem von mehreren anerkennen, denen wir uns dringend stellen sollten und doch ständig verweigern. Ich denke, unsere Sicht von uns selbst, von der Lage der anderen Menschen auf der Erde, aber auch von unserem Planeten insgesamt kann sehr verschieden sein — je nachdem, wofür wir AIDS halten.

Das „Besondere“ ist oft nur ungewohnt

Selbstverständlich mußte uns die neue Krankheit zunächst wie ein Sonderfall erscheinen: Wir erkennen schließlich neue Dinge genau daran, daß sie sich vom schon Bekannten unterscheiden, daß sie „besonders“ sind. Je genauer wir das Neue zu verstehen beginnen, um so deutlicher wird aber meistens auch, daß dieses Neue so „neu“ gar nicht ist: Wir entdecken dann, wie ähnlich das vermeintlich Neue dem schon Bekannten ist, und wir sind dann oftmals gezwungen, unsere bisherige Sicht vieler anderer Dinge zu korrigieren. Es reicht eben nicht, wenn wir immer wieder betonen, wie „besonders“ HIV und AIDS sind; sondern wir sollten uns immer auch fragen, ob uns nicht vielleicht — in der Zeit vor HIV und AIDS — vieles einfach nicht bewußt war, das wir — seit AIDS, nicht wegen AIDS — weniger leicht verdrängen können als vorher.

Das ist natürlich viel leichter gesagt als getan, denn gerade die „unbetroffene“ Mehrheit der Menschen hat daran nicht das geringste Interesse. Sie vermeidet es gerne, nüchtern und in Ruhe zu prüfen, ob sich angesichts von HIV und AIDS nicht auch ihre Sicht vieler anderer Dinge ändern müßte. Niemand läßt sich gerne durch etwas Neues seine Sicht der Welt durcheinanderbringen — schon gar nicht, wenn dieses Neue auch noch Angst macht. Wir bleiben deshalb alle miteinander gerne bei der — sehr viel beruhigenderen — Vorstellung, das schlimme Neue sei eine einsame Ausnahme, die zu überhaupt nichts schon Bekanntem paßt. Denn nur dann kann alles andere beim alten bleiben.

Es leuchtet also ein, daß wir seit zehn Jahren vor allem diskutieren, wie grundsätzlich sich AIDS von allem „Nicht-AIDS“ unterscheidet. Mir scheint aber die Selbstverständlichkeit, mit der wir von der „besonderen“ Lage und den „speziellen“ Bedürfnissen der Menschen mit HIV und AIDS reden, gar nicht begründet, sondern mir scheint, daß in vielem erst HIV und AIDS für alle sichtbar zeigen, wie wenig unsere Art, ganz allgemein mit Krankheit und Tod umzugehen, dem Bedarf auch aller übrigen Menschen entspricht.

Wir sollten deshalb dem Beschreiben der Besonderheiten der neuen Krankheit den notwendigen zweiten Schritt folgen lassen und prüfen, wie „besonders“ sie tatsächlich ist. Ich denke, wir werden dabei feststellen, daß wir vieles an HIV und AIDS bisher ziemlich einseitig wahrnehmen. Gleichzeitig werden wir dann aber auch merken, wie verzerrt unsere übrige Sicht der Wirklichkeit manchmal ist.

Das „Besondere“ an HIV und AIDS

Die Medizin scheint sich auch heute noch weitgehend einig, daß AIDS eine ganz ungewöhnliche Krankheit ist. Das mag in vielerlei Hinsicht ja auch stimmen, aber ich finde die Einmütigkeit schon ziemlich erstaunlich, mit der die Unbehandelbarkeit, die schlechte Prognose und die Tödlichkeit von AIDS im Vordergrund der Meinungen stehen.

Ich habe mich oft gefragt, wie die Medizin wohl zu mir sprechen würde, wenn ich nicht eine HIV-Infektion, sondern einen Magenkrebs hätte, eine schwere Herzkrankheit oder eine der vielen anderen Krankheiten, bei denen diese Medizin sich — oft mit zweifelhaftem Erfolg — einschaltet. Selbst wenn meine Aussichten mit einer dieser Diagnosen kein bißchen besser wären — ich bin mir ziemlich sicher, man würde mir sehr lange das Gefühl geben, meine Krankheit sei durchaus behandelbar, ich dürfe die Hoffnung nicht aufgeben und man habe „solche Krankheiten“ ja doch schon sehr weitgehend im Griff.

Daß uns die Medizin bei AIDS kaum Trost spendet, liegt wohl weniger an HIV und AIDS als vielmehr an der Medizin selbst: Auch sie betrachtet alles Neue lieber zunächst als Sonderfall, damit sich an der übrigen Medizin nur ja nichts ändern muß. Denn ganz gleich, wie „schlimm“ medizinisch gesehen AIDS tatsächlich ist: Je unheilbarer, hoffnungsloser und tödlicher die Medizin AIDS empfindet und darstellt, desto heilbarer wirken sofort alle anderen Diagnosen — vor allem für die Ärzte, aber auch für ihr Publikum.

Die Medizin ist daher in der Beurteilung von HIV und AIDS keine objektive, unparteiische Instanz, sondern es kommt ihr gar nicht so ungelegen, wenn wir alle AIDS für einen schlimmen Ausnahmefall unter den Krankheiten halten.

Unsere Aufklärungskampagnen sind von der gleichen Sicht geprägt. Wollten wir nur die Fakten vermitteln, dann hätten wir dieses zu sagen: Erstens ist AIDS neu, zweitens ist AIDS sehr gefährlich, und drittens kann man sich vor AIDS ziemlich einfach schützen. Statt dessen konzentrieren wir seit Jahren unsere Kräfte auf die immer gleiche finstere Beschwörung: „Gib AIDS keine Chance!“ Wir halten das für richtig, denn wir meinen: AIDS ist so ungewöhnlich furchtbar, daß wir ihm mit außergewöhnlichen Mitteln und großer Entschlossenheit begegnen müssen. Und dann stimmen wir natürlich zu, wenn jemand sagt: Gebt dem AIDS bloß keine Chance!

Ich finde diesen Befehl ziemlich unzumutbar, und es macht mich traurig, wenn ich ihn fast täglich zwischen Tagesthemen und Spielfilm schlucken muß. Aber ich frage mich vor allem, warum eigentlich noch immer keinem auffällt, wie maßlos übertrieben er ist. So strikt sind wir hierzulande schließlich nur mit AIDS, und keiner findet es bisher nötig, etwa dem Alkoholtod „keine Chance“ zu geben, dem Verkehrstod, dem Chemietod oder dem Bombentod — obwohl es bestimmt für manchen von uns gesünder wäre.

Ich fürchte, die Wirkung solcher Parolen ist immer die gleiche: Sie verbreiten Nebelschwaden um das eigentliche Problem. Denn je entschlossener wir uns gegenüber AIDS gebärden, indem wir angeblich alles tun, um ihm keine Chance zu geben — um so harmloser wirken gleich alle anderen Gefahren. Was so problembewußt und entschlossen daherkommt, hat in Wahrheit einen sehr erwünschten Nebeneffekt: Es beruhigt ganz ungemein im Hinblick auf alle anderen Gefahren für unser und anderer Menschen Leben.

Gleichzeitig bürden solche falschen Parolen aber den „Betroffenen“ eine schwere Last auf, denn die sollen ja mit diesem „Keine Chance!“ jeden Tag leben. Ich höre immer wieder jemand sagen, wenn er einen positiven HIV-Test hätte, würde er sich bestimmt aufhängen, und mancher nickt bei solchen Sätzen verständnisvoll. Uns scheinen die Risiken bei HIV und AIDS so ungewöhnlich hoch, daß wir es ganz normal finden, wenn jemand uns sagt: Da kannst du dich auch gleich aufhängen — keine Chance! Und der Gesundheitsminister bestärkt uns in dieser trostlosen Vision, indem er es jeden Abend noch einmal wiederholt.

Natürlich kann man die Zukunft bei HIV und AIDS über die Risiken beschreiben, die jeder Infizierte trägt. Dann endet man leicht bei der Schlußfolgerung, AIDS sei vor allem chancenlos, unbehandelbar und tödlich. Mir hat es in der Vergangenheit weitergeholfen, ganz gegen die Anweisungen der Regierung neben den Risiken auch die Chancen einmal genau zu betrachten.

Die Risiken bei HIV und AIDS

Es gibt wohl neben AIDS keine Krankheit, bei der sich die Menschen so einig sind, mit einem einzigen Labortest sei alles weitere klar. Dabei stimmt gerade bei HIV und AIDS doch viel eher das Gegenteil: Wir wissen bei kaum einer anderen Krankheit so wenig über die Krankheitsvorgänge im einzelnen, und wir können sehr vieles an HIV und AIDS noch keineswegs vernünftig erklären.

Wir wissen zum Beispiel lediglich, daß der HI-Virus nötig ist, um AIDS zu bekommen: Ohne HIV kein AIDS — das ist wohl sicher. Aber keiner weiß bis heute genau, warum der Virus den Körper so krank macht. Wir wissen nicht, ob es dafür neben dem Virus noch andere Voraussetzungen braucht, um welche es sich dabei handeln und was man gegen sie tun könnte. Wir wissen aber auch nicht, ob die Krankheitsvorgänge bei allen Menschen gleich sind — und falls nein, warum nicht.

Was wir über die Risiken einer HIV-Infektion sicher wissen, ist dieses: Wer in den Labortests gesichert „positiv“ ist, hat ein hohes Risiko, irgendwann einmal AIDS zu bekommen. Wer dann AIDS bekommt, hat — zumindest heute — ein noch höheres Risiko, irgendwann einmal an AIDS zu sterben. Mehr wissen wir dazu — gesichert — nicht.

Vor allem: niemand weiß heute zu sagen, was im Einzelfall „irgendwann einmal“ bedeutet. Natürlich scheint die Krankheit in „Etappen“ zu verlaufen — aber wie lange es jeweils dauert, bis ein einzelner Infi

zierter oder Erkrankter die nächste Etappe erreicht, weiß noch immer niemand vorauszusagen.

Was wir kennen, sind Durchschnittswerte für die Zeiträume, in denen eine HIV-Infektion verläuft. Diese Durchschnittswerte entstehen aber rechnerisch, indem sehr kurze und sehr lange Verläufe zusammengezählt werden, ohne daß wir im einzelnen sagen könnten, warum die eine Krankheit kurz und die andere viel länger gedauert hat. Außerdem verlängern sich diese Zeiträume, seit wir die Krankheit beobachten, und keiner weiß, wo hier eine obere Grenze liegt. Durchschnittswerte taugen deshalb überhaupt nicht zur Einschätzung des Einzelfalls.

Es ist aber nicht nur offen, wie früh jemand mit einem positiven HIV-Test tatsächlich krank wird oder stirbt, sondern bei HIV und AIDS weiß zudem über sehr lange Zeiträume kein Mensch, was im einzelnen tatsächlich geschehen wird. Die Schwäche des Immunsystems kann sich in sehr unterschiedlicher Form bemerkbar machen, und die Prognose ist — auch statistisch — jedesmal ziemlich verschieden.

Mit einem positiven Test ist also viel weniger klar, als wir glauben. Ganz im Gegenteil: alles ist weiterhin völlig offen. Man weiß weder genau, wie bald man krank wird, noch, was für eine Krankheit man dann genau haben wird. Die Diagnose sagt nichts über die Perspektive, sondern sie sagt lediglich, daß ein neues Risiko — gewiß ein hohes — zu allen anderen Risiken für unser Leben hinzugekommen ist. Das ist sehr wichtig, denn wir vergessen sehr leicht über einem einzelnen, rechnerisch hohen Risiko alle übrigen Gefahren. Auch die Positiven haben weiterhin — wie alle anderen Menschen — ein Risiko, an etwas anderem als AIDS krank zu werden oder zu sterben. Wir übersehen das oft und tun so, als

würden wir — ohne HIV oder AIDS — garantiert mindestens 75 Jahre alt. Natürlich sagen mir heute die Statistiker: „Aber deine Lebenserwar-

zierter oder Erkrankter die nächste Etappe erreicht, weiß noch immer niemand vorauszusagen.

Was wir kennen, sind Durchschnittswerte für die Zeiträume, in denen eine HIV-Infektion verläuft. Diese Durchschnittswerte entstehen aber rechnerisch, indem sehr kurze und sehr lange Verläufe zusammengezählt werden, ohne daß wir im einzelnen sagen könnten, warum die eine Krankheit kurz und die andere viel länger gedauert hat. Außerdem verlängern sich diese Zeiträume, seit wir die Krankheit beobachten, und keiner weiß, wo hier eine obere Grenze liegt. Durchschnittswerte taugen deshalb überhaupt nicht zur Einschätzung des Einzelfalls.

Es ist aber nicht nur offen, wie früh jemand mit einem positiven HIV-Test tatsächlich krank wird oder stirbt, sondern bei HIV und AIDS weiß zudem über sehr lange Zeiträume kein Mensch, was im einzelnen tatsächlich geschehen wird. Die Schwäche des Immunsystems kann sich in sehr unterschiedlicher Form bemerkbar machen, und die Prognose ist — auch statistisch — jedesmal ziemlich verschieden.

Mit einem positiven Test ist also viel weniger klar, als wir glauben. Ganz im Gegenteil: alles ist weiterhin völlig offen. Man weiß weder genau, wie bald man krank wird, noch, was für eine Krankheit man dann genau haben wird. Die Diagnose sagt nichts über die Perspektive, sondern sie sagt lediglich, daß ein neues Risiko — gewiß ein hohes — zu allen anderen Risiken für unser Leben hinzugekommen ist. Das ist sehr wichtig, denn wir vergessen sehr leicht über einem einzelnen, rechnerisch hohen Risiko alle übrigen Gefahren. Auch die Positiven haben weiterhin — wie alle anderen Menschen — ein Risiko, an etwas anderem als AIDS krank zu werden oder zu sterben. Wir übersehen das oft und tun so, als würden wir — ohne HIV oder AIDS — garantiert mindestens 75 Jahre alt.

Natürlich sagen mir heute die Statistiker: „Aber deine Lebenserwartung beträgt nun einmal mit HIV soundsoviele Jahre weniger als ohne HIV!“, und statistisch stimmt das ja vielleicht sogar. Es wäre aber ein schwerwiegender Irrtum, sich darauf zu verlassen, daß das auch morgen noch stimmt!

Einerseits ist auch unsere Lebenserwartung ein Durchschnittswert, den viele nicht erreichen und andere deutlich überschreiten. Er ist für uns daher nur insofern interessant, als man uns mit einer „gewissen Wahrscheinlichkeit“ verspricht, daß wir ihn erreichen können. Wir neigen nun aber viel zu sehr dazu, uns an solchen Wahrscheinlichkeiten zu orientieren und tun so, als seien hohe Wahrscheinlichkeiten „sicher“ (und würden also immer eintreten) — während wir gleichzeitig niedrige Wahrscheinlichkeiten für „unmöglich“ halten (und uns einreden, sie träten bestimmt niemals ein). Was wir für unsere Zukunft für „wahrscheinlich“ halten, ist aber immer nur eine von mehreren Möglichkeiten — es kann immer auch ganz anders kommen.

Wer mit unserer Lebenserwartung (mit oder ohne HIV) argumentiert, darf andererseits nicht vergessen, daß die Statistiker ihre Zahlen aus der Vergangenheit beziehen und in die Zukunft vorausrechnen. Diese Methode scheint mir aber heute aus zwei Gründen kaum noch vertretbar: Zum einen kennen wir unsere tatsächlichen Gesundheitsrisiken heute überhaupt nicht mehr. Wir kennen nur einen kleinen Teil der Gifte, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten den Globus gefüllt haben. Wir wissen nichts über die Folgen von Klimaveränderungen und Ozonloch auf unsere Gesundheit, und auf dem Gebiet der Viruserkrankungen haben wir mit HIV und AIDS ganz sicher die letzte Entdeckung noch nicht gemacht. Zum anderen können sich aber auch heute bereits bekannte Gesundheitsrisiken sehr plötzlich verändern. Ich finde es ziemlich abwegig, zu behaupten, man werde mit HIV bestimmt kürzer leben als ohne HIV, wo man in jeder Zeitung täglich lesen kann, daß dies schon morgen überhaupt nicht mehr zu stimmen braucht.

Es wäre deshalb für unser Verständnis der Lage auf der Welt — und unserer eigenen Risiken — wichtig, einzusehen, daß auch hier eine Wechselbeziehung zwischen unserer Einschätzung der AIDS-Gefahr (und anderer isolierter Risiken) und unserer Meinung über die übrigen Risiken besteht: Je mehr wir AIDS für einen gefährlichen Sonderfall halten, desto ruhiger bleiben wir angesichts der vielen „Restrisiken“, mit denen wir uns umgeben haben. Für unsere Zukunft gibt es aber heute tatsächlich weniger Garantien als jemals zuvor — und zwar genau nicht wegen HIV oder AIDS, sondern wegen des gefährlichen Zustands, in den wir Menschen unsere Erde nun einmal gebracht haben.

Wenn wir also HIV und AIDS anhand ihrer Risiken beschreiben und sie dann mit anderen Risiken für unser Leben vergleichen, zeigt sich zweierlei:

Erstens ist das Risiko bei HIV und AIDS im Einzelfall nur sehr wenig genau bestimmbar. Es kann sich zudem durch neue Entwicklungen der Wissenschaft sehr plötzlich verändern.

Zweitens sind alle übrigen Risiken für unser Leben und unsere Gesundheit, die diesem HIV- und AIDS-Risiko gegenüberstehen, heute weniger vorhersehbar als jemals zuvor.

Wir beschreiben also tatsächlich die Lage ziemlich ungenau, wenn wir sagen, HIV und AIDS seien schlimm, unbehandelbar und tödlich, denn so kann man auch viele andere Risiken beschreiben. Wir übersehen dann aber vor allem, daß jedem Risiko entsprechende Chancen gegenüberstehen.

Die Chancen bei HIV und AIDS

Mir scheinen HIV und AIDS längst nicht so chancenlose Zustände zu sein, wie wir zumeist annehmen. Dabei meine ich mit „Chance“ zunächst einfach das Gegenteil des Risikos: eine zeitliche Veränderung und qualitative Verbesserung unseres Lebens mit HIV oder AIDS. Beides scheint mir in verschiedener Hinsicht möglich.

Die HIV-Infektion ist ja zunächst ein langsamer Prozeß, der — verglichen mit den vielen Jahren seiner Dauer — meist schon ziemlich frühzeitig bemerkt wird. Es ist deshalb meist reichlich Zeit, sich auf die neue Lage einzustellen und an seinen Chancen zu arbeiten — ganz anders, als dies bei anderen, rascher verlaufenden Krankheiten möglich ist.

Ein erster Schritt ist zum Beispiel, neben HIV auch seinen übrigen Risiken mehr Beachtung zu schenken. Ich selber bin im Laufe des Nachdenkens über meine Risiken ein sehr viel vorsichtigerer Autofahrer geworden und habe damit mein Unfallrisiko sicherlich gesenkt. Ich arbeite viel weniger und habe deshalb vielleicht den Herzinfarkt noch nicht bekommen, der nach der Statistik in meinem Alter immer wahrscheinlicher wird.

Risikobewußter zu leben, kann deshalb durchaus bedeuten, daß jemand mit HIV oder AIDS älter wird, als er ohne HIV geworden wäre. Es kann im Einzelfall sein — und das genügt, um sich selbst eine Chance zu begründen, auch wenn es für den statistischen Durchschnitt der Positiven nicht gilt.

Man kann seine Chancen bei HIV und AIDS aber nicht nur dadurch verbessern, daß man andere Risiken mindert, sondern gerade die HIV-Infektion bietet Chancen, den Verlauf zu beeinflussen, die wir ganz außer acht lassen, wenn wir glauben, die Krankheit würde gesetzmäßig in einem vorhersehbaren Rhythmus auf ein sicheres Ende fortschreiten. Ich denke dabei gar nicht in erster Linie an die sehr verschiedenen Medikamente und Therapieverfahren, die wir — mit wechselnden Erfolgen — heute ausprobieren, sondern ich denke dabei vor allem an die psychische Seite des Krankheitsgeschehens. Seelische Vorgänge spielen natürlich für den Verlauf aller körperlichen Krankheiten eine wichtige Rolle — bei keiner anderen Krankheit scheinen mir diese Zusammenhänge aber so eng und offensichtlich wie bei HIV und AIDS.

Für die Medizin könnte die HIV- Infektion einmal ein Modell werden zum besseren Verständnis dieser bis heute kaum begriffenen Zusammenhänge, denn es gibt hier noch viel zu forschen. Für Menschen mit HIV und AIDS lohnt es sich — nach allem, was die Medizin heute weiß — aber auf alle Fälle, sich gut zu beobachten und dafür zu sorgen, daß sie sich möglichst wohlfühlen.

Das gilt einerseits für den Umgang mit dem eigenen Körper. Es verbessert die Chancen ziemlich sicher, wenn man seinen Körper weder schont noch überfordert und sich in ihm wohlzufühlen versucht. Es macht aber für den Verlauf der Infektion offenbar auch einen großen Unterschied, wie man seine neue Perspektive verarbeitet: ob man sich psychisch als eher stabil und ruhig oder eher als gestreßt und überfordert erlebt; in welchem Ausmaß man sich seine Sorgen tatsächlich zugibt oder sie verdrängt; wie sehr man über seine Lage traurig ist, wie oft man Mut spürt für den weiteren Weg, oder wie sehr einem Angstvorstellungen das Leben schwer machen.

Das heißt überhaupt nicht, daß man mit HIV und AIDS um jeden Preis fröhlich sein muß. Sondern es heißt vor allem, immer wenn man vor dem eigenen Risiko Angst bekommt, sich auch seine Chancen wieder systematisch klarzumachen. Es heißt, sich jeden Tag seine neue, eigene Hoffnung zu begründen, und es heißt, neben dem eigenen Problem die Lage der anderen Menschen nicht ganz aus den Augen zu verlieren.

Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, sich zu sagen, daß es auch hätte viel schlimmer kommen können. Aber es stimmt eben, daß es — von den Chancen her gesehen — viel ungünstiger ist, in Uganda AIDS zu haben, in Tschernobyl gewohnt zu haben oder in Bangladesh geboren zu sein. Im weltweiten Vergleich sind unsere Chancen wirklich unvergleichlich besser — trotz HIV, trotz AIDS und trotz aller anderen Gesundheitsrisiken.

Auch in bezug auf den Virus selbst sind unsere Chancen durchaus nicht schlecht. Natürlich ist bis heute keine Therapie in Sicht, und niemand weiß, ob die gentechnischen Verfahren, die wir dafür entwickeln, nicht schlimmere Folgen haben werden als HIV, AIDS und vieles andere zusammengerechnet. Aber ich bin mir völlig sicher, daß das Einzelproblem „HIV-Infektion“ gelöst wird.

Wenn es dann so weit ist, haben wir in Europa ebenfalls wesentlich bessere Chancen als 90 Prozent der Infizierten auf der Welt, auch einen Vorteil davon zu haben. Für Menschen mit HIV und AIDS, die in Afrika, in Südamerika oder in den Elendsvierteln der USA und Asiens leben, sieht in dieser Hinsicht die Lage sehr viel hoffnungsloser aus als für jeden von uns im reichsten Kontinent der Erde.

Wir sollen uns diese Chancen immer wieder vor Augen halten und sie so gut als möglich nutzen. Nicht nur, weil es sie tatsächlich gibt, sondern vor allem, weil sich unsere Chancen zu verbessern scheinen, wenn wir sie erkennen: Wer nur die Risiken sieht, muß viel Angst haben. Wer auch die Chancen sieht, kann zwischendurch hoffen. Und Hoffnung verbessert bei jeder Krankheit, besonders aber bei HIV und AIDS, die Chancen, mit ihr zu leben.

Das Leben mit HIV und AIDS

Mir scheint das Leben mit HIV oder AIDS bedeutend einfacher, wenn man neben den allseits betonten Risiken auch die oft vergessenen Chancen bedenkt. Dann findet man schon ein paar Eigenschaften, die HIV oder AIDS positiv von anderen Krankheiten unterscheiden. Man wird dann aber auch neue Gemeinsamkeiten mit ganz anderen Menschen finden: Die Lage der Menschen mit HIV und AIDS gleicht der Lage von Menschen mit völlig anderen hohen Risiken oder schweren Krankheiten viel mehr, als es unsere vielen speziellen Beratungs- und Versorgungsangebote zunächst vermuten lassen.

Natürlich ist es gut, daß wir heute über ein breites Netz von Hilfen für das Leben mit HIV und AIDS verfügen. Mir scheint aber auch, daß diese speziellen Angebote und Strukturen gleichzeitig bei allen „Unbetroffenen“ den — ganz falschen — Eindruck verstärkt haben, in den übrigen Bereichen der sozialen und medizinischen Versorgung sei alles in Ordnung.

Gerade wenn jetzt für HIV und AIDS immer weniger spezielle Finanzierungen verfügbar sind, sollten wir diesen Aspekt nicht vergessen: HIV und AIDS sind nur ganz vordergründung „speziell“ — in viel größerem Maß sind sie Beispiele. Sie sind Modelle für Situationen, in die wir Menschen kommen können, und für die unsere Gesellschaft Hilfen entwickeln muß. Gerade die von HIV und AIDS „unbetroffene“ Bevölkerungsmehrheit müßte eigentlich großes Interesse daran haben, daß die Erfahrungen der letzten zehn Jahre viel breiter angewandt werden.

Statt dessen scheint die heutige Diskussion um die AIDS-Versorgung eher die Vorstellung zu verstärken, HIV und AIDS seien besonders schlimm, besonders hoffnungslos und besonders tödlich. Jedes Argument zielt darauf, „Betroffenheit“ zu schaffen und noch zu vergrößern — eine Betroffenheit, die die Infizierten ohnehin haben und alle anderen Menschen nicht, und von der ich denke, daß sie bei HIV oder AIDS medizinisch überhaupt nicht günstig ist. Es gibt noch längst nicht genügend Erfahrungen, um Genaues über die Rolle der psychischen Krankheitsverarbeitung für den Verlauf der Infektion zu sagen; aber wir können wohl annehmen, daß es bei HIV günstiger ist, sich nicht als vom Schicksal besonders benachteiligt zu betrachten.

Sich im Nachteil zu fühlen, ist nicht nur wahrscheinlich ungesund, sondern es hat auch für unsere Seele und unser Verhältnis zu den anderen Menschen schwerwiegende Folgen. Es trennt uns sehr leicht von den anderen Menschen, weil wir sie um ihren Vorteil, um ihre „Unbetroffenheit“, zu beneiden beginnen. So distanzieren und isolieren wir uns in unserer Betroffenheit immer mehr von anderen Menschen, weil wir vermuten, daß ohnehin niemand unsere Lage nachempfinden kann. Wenn wir dann für unsere Rechte als Betroffene öffentlich eintreten, verwenden manche von uns eine Sprache, die uns nur deshalb nicht als respektlos und gemein auffällt, weil wir uns tatsächlich alle sehr im Nachteil fühlen.

Da finden wir nachvollziehbar, wenn der Vertreter eines AIDS-Projekts in einer schwulen Zeitschrift über die „leider immer noch nicht gekreuzigte Sozialsenatorin“ klagt, über „asexuelle Diakonissen und vertrocknete Caritas-Krankenschwestern“, die uns doch wirklich keiner mehr zur Hauspflege zumuten könne. Viele von uns sehen sich durch solche Projekte — oder durch eine AIDS-Hilfe, die uns auf dem Titelblatt ihrer Zeitschrift mit einem „Uhr und Sarg“-Stilleben Mut macht — richtig vertreten. Uns fällt nichts auf, denn wir sehen die Lage ja eigentlich ganz ähnlich.

Auch unsere Kultur, in Berlin gerade die schwule Kultur, wird von diesem Gefühl des Nachteils geprägt — nur daß sich da unsere Hoffnungslosigkeit ganz offen als Lebensfeindlichkeit und Todesfixierung ausdrückt. Es gehört bei manchen Veranstaltungen ja schon fast zum guten Ton, daß man sich mit schwulem Witz frauenfeindlich und unsolidarisch in die Abtreibungsfrage einmischt, daß man über Pärchen spottet oder sich über kleine Kinder beschwert. Zynismen und Sarkasmen aller Art haben Hochsaison, und selbst wenn sich ein Mensch — wie kürzlich im Tempodrom bei einer „Wohltätigkeits“veranstaltung — ohne Worte auf offener Bühne symbolisch erhängt, nachdem er mit Farbe eine rote Tür in eine schwarze Tür umgestrichen hat, sich dabei immer verzweifelter die Haare rauft und auf den Lacherfolg wartet — selbst dann finden wir diese Art Kultur verständlich. „Sie haben ja recht, es gibt ja schließlich AIDS“, sagen wir dann sehr leicht und merken gar nicht mehr, wie wenig diese Begründung stimmt.

Hoffnung bei HIV und AIDS?

Es gibt ziemlich viele Gründe, unsere gängigen Einschätzungen zu HIV und AIDS zu überdenken. Vieles spricht dafür, daß neben allen medizinischen Tricks und Pillen die Frage, wofür wir AIDS halten und wie wir also mit ihm umgehen, darüber mitentscheidet, wie wir AIDS erleben: Wie lange, wie gut und wie schön wir mit und trotz dieser Diagnose leben können. Ich denke, wir haben darauf in unserem Reagieren bisher zu wenig geachtet, indem wir vor allem das Besondere der neuen Situation betont haben.

Wenn wir HIV und AIDS allmählich weniger als Ausnahmefälle und immer mehr als Beispiel sehen könnten — ich denke, es wäre ein Anlaß zur Hoffnung. In erster Linie zur Hoffnung, daß wir alle mit unseren Risiken länger, besser und schöner leben könnten. Das wünsche ich mir vor allem.

Als schwuler Berliner hoffe ich dann aber auch auf eine neue schwule Kultur in unserer Stadt. Auf eine Kultur, die bei aller Betroffenheit auch wieder etwas mit dem Leben und dem Lachen zu tun hat. Eine Kultur, in der wir wieder etwas von dem merken, wovon wir Schwulen doch so viel zu verstehen glauben: von der Solidarität — und von der Liebe. Das wäre noch schöner.

tung beträgt nun einmal mit HIV soundsoviele Jahre weniger als ohne HIV!“, und statistisch stimmt das ja vielleicht sogar. Es wäre aber ein schwerwiegender Irrtum, sich darauf zu verlassen, daß das auch morgen noch stimmt!

Einerseits ist auch unsere Lebenserwartung ein Durchschnittswert, den viele nicht erreichen und andere deutlich überschreiten. Er ist für uns daher nur insofern interessant, als man uns mit einer „gewissen Wahrscheinlichkeit“ verspricht, daß wir ihn erreichen können. Wir neigen nun aber viel zu sehr dazu, uns an solchen Wahrscheinlichkeiten zu orientieren und tun so, als seien hohe Wahrscheinlichkeiten „sicher“ (und würden also immer eintreten) — während wir gleichzeitig niedrige Wahrscheinlichkeiten für „unmöglich“ halten (und uns einreden, sie träten bestimmt niemals ein). Was wir für unsere Zukunft für „wahrscheinlich“ halten, ist aber immer nur eine von mehreren Möglichkeiten — es kann immer auch ganz anders kommen.

Wer mit unserer Lebenserwartung (mit oder ohne HIV) argumentiert, darf andererseits nicht vergessen, daß die Statistiker ihre Zahlen aus der Vergangenheit beziehen und in die Zukunft vorausrechnen. Diese Methode scheint mir aber heute aus zwei Gründen kaum noch vertretbar: Zum einen kennen wir unsere tatsächlichen Gesundheitsrisiken heute überhaupt nicht mehr. Wir kennen nur einen kleinen Teil der Gifte, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten den Globus gefüllt haben. Wir wissen nichts über die Folgen von Klimaveränderungen und Ozonloch auf unsere Gesundheit, und auf dem Gebiet der Viruserkrankungen haben wir mit HIV und AIDS ganz sicher die letzte Entdeckung noch nicht gemacht. Zum anderen können sich aber auch heute bereits bekannte Gesundheitsrisiken sehr plötzlich verändern. Ich finde es ziemlich abwegig, zu behaupten, man werde mit HIV bestimmt kürzer leben als ohne HIV, wo man in jeder Zeitung täglich lesen kann, daß dies schon morgen überhaupt nicht mehr zu stimmen braucht.

Es wäre deshalb für unser Verständnis der Lage auf der Welt — und unserer eigenen Risiken — wichtig, einzusehen, daß auch hier eine Wechselbeziehung zwischen unserer Einschätzung der AIDS-Gefahr (und anderer isolierter Risiken) und unserer Meinung über die übrigen Risiken besteht: Je mehr wir AIDS für einen gefährlichen Sonderfall halten, desto ruhiger bleiben wir angesichts der vielen „Restrisiken“, mit denen wir uns umgeben haben. Für unsere Zukunft gibt es aber heute tatsächlich weniger Garantien als jemals zuvor — und zwar genau nicht wegen HIV oder AIDS, sondern wegen des gefährlichen Zustands, in den wir Menschen unsere Erde nun einmal gebracht haben.

Wenn wir also HIV und AIDS anhand ihrer Risiken beschreiben und sie dann mit anderen Risiken für unser Leben vergleichen, zeigt sich zweierlei:

Erstens ist das Risiko bei HIV und AIDS im Einzelfall nur sehr wenig genau bestimmbar. Es kann sich zudem durch neue Entwicklungen der Wissenschaft sehr plötzlich verändern.

Zweitens sind alle übrigen Risiken für unser Leben und unsere Gesundheit, die diesem HIV- und AIDS-Risiko gegenüberstehen, heute weniger vorhersehbar als jemals zuvor.

Wir beschreiben also tatsächlich die Lage ziemlich ungenau, wenn wir sagen, HIV und AIDS seien schlimm, unbehandelbar und tödlich, denn so kann man auch viele andere Risiken beschreiben. Wir übersehen dann aber vor allem, daß jedem Risiko entsprechende Chancen gegenüberstehen.

Die Chancen bei HIV und AIDS

Mir scheinen HIV und AIDS längst nicht so chancenlose Zustände zu sein, wie wir zumeist annehmen. Dabei meine ich mit „Chance“ zunächst einfach das Gegenteil des Risikos: eine zeitliche Veränderung und qualitative Verbesserung unseres Lebens mit HIV oder AIDS. Beides scheint mir in verschiedener Hinsicht möglich.

Die HIV-Infektion ist ja zunächst ein langsamer Prozeß, der — verglichen mit den vielen Jahren seiner Dauer — meist schon ziemlich frühzeitig bemerkt wird. Es ist deshalb meist reichlich Zeit, sich auf die neue Lage einzustellen und an seinen Chancen zu arbeiten — ganz anders, als dies bei anderen, rascher verlaufenden Krankheiten möglich ist.

Ein erster Schritt ist zum Beispiel, neben HIV auch seinen übrigen Risiken mehr Beachtung zu schenken. Ich selber bin im Laufe des Nachdenkens über meine Risiken ein sehr viel vorsichtigerer Autofahrer geworden und habe damit mein Unfallrisiko sicherlich gesenkt. Ich arbeite viel weniger und habe deshalb vielleicht den Herzinfarkt noch nicht bekommen, der nach der Statistik in meinem Alter immer wahrscheinlicher wird.

Risikobewußter zu leben, kann deshalb durchaus bedeuten, daß jemand mit HIV oder AIDS älter wird, als er ohne HIV geworden wäre. Es kann im Einzelfall sein — und das genügt, um sich selbst eine Chance zu begründen, auch wenn es für den statistischen Durchschnitt der Positiven nicht gilt.

Man kann seine Chancen bei HIV und AIDS aber nicht nur dadurch verbessern, daß man andere Risiken mindert, sondern gerade die HIV-Infektion bietet Chancen, den Verlauf zu beeinflussen, die wir ganz außer acht lassen, wenn wir glauben, die Krankheit würde gesetzmäßig in einem vorhersehbaren Rhythmus auf ein sicheres Ende fortschreiten. Ich denke dabei gar nicht in erster Linie an die sehr verschiedenen Medikamente und Therapieverfahren, die wir — mit wechselnden Erfolgen — heute ausprobieren, sondern ich denke dabei vor allem an die psychische Seite des Krankheitsgeschehens. Seelische Vorgänge spielen natürlich für den Verlauf aller körperlichen Krankheiten eine wichtige Rolle — bei keiner anderen Krankheit scheinen mir diese Zusammenhänge aber so eng und offensichtlich wie bei HIV und AIDS.

Für die Medizin könnte die HIV- Infektion einmal ein Modell werden zum besseren Verständnis dieser bis heute kaum begriffenen Zusammenhänge, denn es gibt hier noch viel zu forschen. Für Menschen mit HIV und AIDS lohnt es sich — nach allem, was die Medizin heute weiß — aber auf alle Fälle, sich gut zu beobachten und dafür zu sorgen, daß sie sich möglichst wohlfühlen.

Das gilt einerseits für den Umgang mit dem eigenen Körper. Es verbessert die Chancen ziemlich sicher, wenn man seinen Körper weder schont noch überfordert und sich in ihm wohlzufühlen versucht. Es macht aber für den Verlauf der Infektion offenbar auch einen großen Unterschied, wie man seine neue Perspektive verarbeitet: ob man sich psychisch als eher stabil und ruhig oder eher als gestreßt und überfordert erlebt; in welchem Ausmaß man sich seine Sorgen tatsächlich zugibt oder sie verdrängt; wie sehr man über seine Lage traurig ist, wie oft man Mut spürt für den weiteren Weg, oder wie sehr einem Angstvorstellungen das Leben schwer machen.

Das heißt überhaupt nicht, daß man mit HIV und AIDS um jeden Preis fröhlich sein muß. Sondern es heißt vor allem, immer wenn man vor dem eigenen Risiko Angst bekommt, sich auch seine Chancen wieder systematisch klarzumachen. Es heißt, sich jeden Tag seine neue, eigene Hoffnung zu begründen, und es heißt, neben dem eigenen Problem die Lage der anderen Menschen nicht ganz aus den Augen zu verlieren.

Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, sich zu sagen, daß es auch hätte viel schlimmer kommen können. Aber es stimmt eben, daß es — von den Chancen her gesehen — viel ungünstiger ist, in Uganda AIDS zu haben, in Tschernobyl gewohnt zu haben oder in Bangladesh geboren zu sein. Im weltweiten Vergleich sind unsere Chancen wirklich unvergleichlich besser — trotz HIV, trotz AIDS und trotz aller anderen Gesundheitsrisiken.

Auch in bezug auf den Virus selbst sind unsere Chancen durchaus nicht schlecht. Natürlich ist bis heute keine Therapie in Sicht, und niemand weiß, ob die gentechnischen Verfahren, die wir dafür entwickeln, nicht schlimmere Folgen haben werden als HIV, AIDS und vieles andere zusammengerechnet. Aber ich bin mir völlig sicher, daß das Einzelproblem „HIV-Infektion“ gelöst wird.

Wenn es dann so weit ist, haben wir in Europa ebenfalls wesentlich bessere Chancen als 90 Prozent der Infizierten auf der Welt, auch einen Vorteil davon zu haben. Für Menschen mit HIV und AIDS, die in Afrika, in Südamerika oder in den Elendsvierteln der USA und Asiens leben, sieht in dieser Hinsicht die Lage sehr viel hoffnungsloser aus als für jeden von uns im reichsten Kontinent der Erde.

Wir sollen uns diese Chancen immer wieder vor Augen halten und sie so gut als möglich nutzen. Nicht nur, weil es sie tatsächlich gibt, sondern vor allem, weil sich unsere Chancen zu verbessern scheinen, wenn wir sie erkennen: Wer nur die Risiken sieht, muß viel Angst haben. Wer auch die Chancen sieht, kann zwischendurch hoffen. Und Hoffnung verbessert bei jeder Krankheit, besonders aber bei HIV und AIDS, die Chancen, mit ihr zu leben.

Das Leben mit HIV und AIDS

Mir scheint das Leben mit HIV oder AIDS bedeutend einfacher, wenn man neben den allseits betonten Risiken auch die oft vergessenen Chancen bedenkt. Dann findet man schon ein paar Eigenschaften, die HIV oder AIDS positiv von anderen Krankheiten unterscheiden. Man wird dann aber auch neue Gemeinsamkeiten mit ganz anderen Menschen finden: Die Lage der Menschen mit HIV und AIDS gleicht der Lage von Menschen mit völlig anderen hohen Risiken oder schweren Krankheiten viel mehr, als es unsere vielen speziellen Beratungs- und Versorgungsangebote zunächst vermuten lassen.

Natürlich ist es gut, daß wir heute über ein breites Netz von Hilfen für das Leben mit HIV und AIDS verfügen. Mir scheint aber auch, daß diese speziellen Angebote und Strukturen gleichzeitig bei allen „Unbetroffenen“ den — ganz falschen — Eindruck verstärkt haben, in den übrigen Bereichen der sozialen und medizinischen Versorgung sei alles in Ordnung.

Gerade wenn jetzt für HIV und AIDS immer weniger spezielle Finanzierungen verfügbar sind, sollten wir diesen Aspekt nicht vergessen: HIV und AIDS sind nur ganz vordergründung „speziell“ — in viel größerem Maß sind sie Beispiele. Sie sind Modelle für Situationen, in die wir Menschen kommen können, und für die unsere Gesellschaft Hilfen entwickeln muß. Gerade die von HIV und AIDS „unbetroffene“ Bevölkerungsmehrheit müßte eigentlich großes Interesse daran haben, daß die Erfahrungen der letzten zehn Jahre viel breiter angewandt werden.

Statt dessen scheint die heutige Diskussion um die AIDS-Versorgung eher die Vorstellung zu verstärken, HIV und AIDS seien besonders schlimm, besonders hoffnungslos und besonders tödlich. Jedes Argument zielt darauf, „Betroffenheit“ zu schaffen und noch zu vergrößern — eine Betroffenheit, die die Infizierten ohnehin haben und alle anderen Menschen nicht, und von der ich denke, daß sie bei HIV oder AIDS medizinisch überhaupt nicht günstig ist. Es gibt noch längst nicht genügend Erfahrungen, um Genaues über die Rolle der psychischen Krankheitsverarbeitung für den Verlauf der Infektion zu sagen; aber wir können wohl annehmen, daß es bei HIV günstiger ist, sich nicht als vom Schicksal besonders benachteiligt zu betrachten.

Sich im Nachteil zu fühlen, ist nicht nur wahrscheinlich ungesund, sondern es hat auch für unsere Seele und unser Verhältnis zu den anderen Menschen schwerwiegende Folgen. Es trennt uns sehr leicht von den anderen Menschen, weil wir sie um ihren Vorteil, um ihre „Unbetroffenheit“, zu beneiden beginnen. So distanzieren und isolieren wir uns in unserer Betroffenheit immer mehr von anderen Menschen, weil wir vermuten, daß ohnehin niemand unsere Lage nachempfinden kann. Wenn wir dann für unsere Rechte als Betroffene öffentlich eintreten, verwenden manche von uns eine Sprache, die uns nur deshalb nicht als respektlos und gemein auffällt, weil wir uns tatsächlich alle sehr im Nachteil fühlen.

Da finden wir nachvollziehbar, wenn der Vertreter eines AIDS-Projekts in einer schwulen Zeitschrift über die „leider immer noch nicht gekreuzigte Sozialsenatorin“ klagt, über „asexuelle Diakonissen und vertrocknete Caritas-Krankenschwestern“, die uns doch wirklich keiner mehr zur Hauspflege zumuten könne. Viele von uns sehen sich durch solche Projekte — oder durch eine AIDS-Hilfe, die uns auf dem Titelblatt ihrer Zeitschrift mit einem „Uhr und Sarg“-Stilleben Mut macht — richtig vertreten. Uns fällt nichts auf, denn wir sehen die Lage ja eigentlich ganz ähnlich.

Auch unsere Kultur, in Berlin gerade die schwule Kultur, wird von diesem Gefühl des Nachteils geprägt — nur daß sich da unsere Hoffnungslosigkeit ganz offen als Lebensfeindlichkeit und Todesfixierung ausdrückt. Es gehört bei manchen Veranstaltungen ja schon fast zum guten Ton, daß man sich mit schwulem Witz frauenfeindlich und unsolidarisch in die Abtreibungsfrage einmischt, daß man über Pärchen spottet oder sich über kleine Kinder beschwert. Zynismen und Sarkasmen aller Art haben Hochsaison, und selbst wenn sich ein Mensch — wie kürzlich im Tempodrom bei einer „Wohltätigkeits“veranstaltung — ohne Worte auf offener Bühne symbolisch erhängt, nachdem er mit Farbe eine rote Tür in eine schwarze Tür umgestrichen hat, sich dabei immer verzweifelter die Haare rauft und auf den Lacherfolg wartet — selbst dann finden wir diese Art Kultur verständlich. „Sie haben ja recht, es gibt ja schließlich AIDS“, sagen wir dann sehr leicht und merken gar nicht mehr, wie wenig diese Begründung stimmt.

Hoffnung bei HIV und AIDS?

Es gibt ziemlich viele Gründe, unsere gängigen Einschätzungen zu HIV und AIDS zu überdenken. Vieles spricht dafür, daß neben allen medizinischen Tricks und Pillen die Frage, wofür wir AIDS halten und wie wir also mit ihm umgehen, darüber mitentscheidet, wie wir AIDS erleben: Wie lange, wie gut und wie schön wir mit und trotz dieser Diagnose leben können. Ich denke, wir haben darauf in unserem Reagieren bisher zu wenig geachtet, indem wir vor allem das Besondere der neuen Situation betont haben.

Wenn wir HIV und AIDS allmählich weniger als Ausnahmefälle und immer mehr als Beispiel sehen könnten — ich denke, es wäre ein Anlaß zur Hoffnung. In erster Linie zur Hoffnung, daß wir alle mit unseren Risiken länger, besser und schöner leben könnten. Das wünsche ich mir vor allem.

Als schwuler Berliner hoffte ich dann aber auch auf eine neue schwule Kultur in unserer Stadt. Auf eine Kultur, die bei aller Betroffenheit auch wieder etwas mit dem Leben und dem Lachen zu tun hat. Eine Kultur, in der wir wieder etwas von dem merken, wovon wir Schwulen doch so viel zu verstehen glauben: von der Solidarität — und von der Liebe. Das wäre noch schöner.