Vorwärts und endlich vergessen

■ Der einst größte Chemiekonzern der Welt müßte längst abgewickelt sein. Die IG-Farbenindustrie wurde 1945 zerschlagen. Doch die Auflösungsgesellschaft des Nazikonzerns blieb die Aktionäre wehren sich gegen..

Vorwärts und endlich vergessen Der einst größte Chemiekonzern der Welt müßte längst abgewickelt sein. Die IG-Farbenindustrie wurde 1945 zerschlagen. Doch die Auflösungsgesellschaft des Nazikonzerns blieb — die Aktionäre wehren sich gegen das endgültige Aus. Heute wollen sie gar den Einstieg ins Immobiliengeschäft beschließen. Auschwitz-Komitee und Grüne fordern hingegen die Liquidation.

Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Gewiß, unsere Vergangenheit strotzt seit Anbeginn von einer nicht abreißenden Kette von Freveln, von Gemeinheiten und Brutalitäten.“ Das schrieb 1974 der Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG der Belegschaft des Chemiekonzerns vom Main ins Konzernstammbuch. Worauf es in den „neuen Zeiten“ nach dem westdeutschen Wirtschaftswunder ankomme, sei „die Gewissensschärfung, das Bessermachen“. Die im „1000jährigen Reich“ Adolf Hitlers zum berühmt-berüchtigten IG-Farben-Konzern gehörende Chemiefabrik Farbwerke Hoechst AG war 1974 dabei, als eine der ausgewiesenen IG-Farben- Nachfolgegesellschaften einen neuen Chemiekonzern aufzubauen.

Nach dem Krieg hatten die Alliierten den alten Konzern, in den nahezu die gesamte Chemieindustrie Nazideutschlands integriert war, in seine Einzelteile zerschlagen. Die US-Streitkräfte richteten in der Frankfurter Konzernzentrale am Alleenring ihr Hauptquartier ein — ein symbolträchtiger Akt. US-Amerikaner, Briten und Franzosen verständigten sich darauf, zur endgültigen Liquidation des Konzerns eine Auflösungsgesellschaft zu gründen: die IG Farbenindustrie Aktiengesellschaft in Abwicklung (i.A.). Diese Liquidationsfirma IG Farben i.A. sollte das Restvermögen des Konzerns verwalten, alle begründeten Forderungen an den alten Konzern erfüllen und „Schadenersatzleistungen an die durch die Aktivitäten des Kartells geschädigten Personengruppen“ erbringen. Tatsächlich zahlte die IG Farben i.A. in den 50er Jahren ganze 30 Millionen DM an jüdische Vereinigungen — als „Wiedergutmachung“ für Millionen von toten Juden, die in den Gaskammern der Nazis mit dem IG-Farben-Produkt „Zyklon B“ ermordet worden waren. Die IG Farben i.A. deklarierte diese Ausschüttung damals als „einmaligen Akt“. Im Gegenzug verweigerte die Liquidationsfirma Zigtausenden von Zwangsarbeitern, die Sklaverei und Lagerhaltung mit Schäden an Leib und Seele überstanden hatten, jede Entschädigung — bis heute.

Die IG Farben i.A. existiert tatsächlich noch immer, obgleich die Firma nach den Vorstellungen der Alliierten bereits in den 50er Jahren „abgewickelt“ sein sollte.

Die lebende Leiche präsentiert sich nach der deutschen Wiedervereinigung munterer denn je: Im Hotel Frankfurter Hof in Frankfurt am Main findet heute die Aktionärs- Hauptversammlung der Firma statt, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Und — im Jahre 1991 geht es der Aktiengesellschaft i.A. nicht mehr um die Selbstliquidation, auch wenn es in der vom Vorstand vorgeschlagenen Satzungsänderung noch immer heißt, daß es Gegenstand des Unternehmens sei, „die Gesellschaft abzuwickeln und die laufenden Geschäfte zu beenden, die Forderungen einzuziehen, das übrige Vermögen in Geld umzusetzen und die Gläubiger zu befriedigen“. Entscheidend ist der Zusatz, den die sogenannten Liquidatoren Bartels und Vollmann, die als Vorständler fungieren, zur Beschlußfassung vorschlagen. „Soweit es die Abwicklung erfordert“, will die Gesellschaft auch „neue Geschäfte“ eingehen. Aus dem neuen Absatz 2 des Paragraphen 3 der Satzung geht unmißverständlich hervor, daß sich die eigentlich aufzulösende Gesellschaft ein völlig neues Betätigungsfeld zu erschließen gedenkt: Die IG Farben i. A. will in- und ausländische Beteiligungen und Finanzanlagen erwerben und verwalten und Niederlassungen im In- und Ausland gründen — „oder Betriebe im In- und Ausland ganz oder teilweise übernehmen“. Weiter beabsichtigt die Gesellschaft Grundstücke sowie „grundstücksgleiche Rechte“ im In- und Ausland zu erwerben und zu verwerten und sich mit anderen Unternehmen „gleicher oder verwandter Art“ — „in Sonderfällen auch anderer Art“ — zu Unternehmens- und Interessengemeinschaften zusammenzuschließen: der „Zombie“ IG Farben auf Expansionskurs.

Die Wiedervereinigung hat die „Liquidatoren“ kühn werden lassen. Und den Aktienkurs, der jahrelang vor sich hin dümpelte, zog plötzlich an. Nur Tage nach dem 3. Oktober 1990 meldete die IG Farben i.A. beim Liegenschaftsamt in Merseburg Ansprüche auf die nach 1945 von den Sowjets enteigneten Anlagen und Grundstücke der ostdeutschen Chemiewerke Leuna und Buna an. Exakt 884 Millionen Reichsmark habe der alte IG-Farben-Konzern bis Kriegsende dort investiert. Den Gegenwert dieser Summe in harten DM will die IG Farben i.A. jetzt, 46 Jahre nach der Konzernzerschlagung, auf ihrem Konto verbuchen, als „Entschädigung für die Enteignung“. Doch „in dieser Angelegenheit“, so IG-Farben-Sprecher Schweikert, habe sich „bis heute noch nichts getan“. Aus der Direktion Recht der Treuhand war bereits im vergangenen Jahr zu hören, daß im Einigungsvertrag Ansprüche auf Entschädigung wegen Enteignungen vor 1949 ausgesprochen „zurückhaltend bewertet“ würden. Seit Jahresfrist sammelt die IG Farben i.A. deshalb fleißig Nachweise darüber, wann die Enteignungen tatsächlich erfolgten. Da die sowjetischen Behörden in den ersten Jahren nach dem Krieg die Grundbücher mehr als nachlässig führten, setzen die „Liquidatoren“ auf nicht mehr nachvollziehbare Enteignungstermine. Und dann, so die Spekulation der IG Farben i.A., könne eine Entschädigung mit dem Verweis auf eine Enteignung vor 1949 nicht mehr verweigert werden.

Daß sich die lebende Leiche IG Farben i.A. Entschädigungsansprüche sichern will, hat besonders die Menschen empört, die seit Jahrzehnten auf eine Entschädigung wegen der ihnen zugefügten Schäden während der Zwangsarbeit für den IG- Farben-Konzern warten. Das „Bündnis gegen IG Farben“, dem u.a. das Auschwitz-Komitee in der BRD, die Grünen im Umlandverband Frankfurt und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) angehören, wird deshalb auf der heutigen Hauptversammlung einen Antrag auf endgültige Liquidation des Unternehmens einbringen. Bis Ende 1992 soll die Firma nach den Vorstellungen der Antragsteller aufgelöst — und das Firmenvermögen zur Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter der IG Farben bereitgestellt werden. Darüber hinaus sollen Teile des liquiden Firmenvermögens in eine Stiftung überführt werden, mit deren Geldern die Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus gepflegt werden sollen. Mit Flugblättern und kurzen Redebeiträgen will das Bündnis vor dem Frankfurter Hof die Forderung nach endgültiger Auflösung des ehemaligen reichsdeutschen Chemiekonzerns, „der Hitler maßgeblich mitfinanziert hat“, unterstreichen: „IG Farben hat den deutschen Faschisten das Gas Zyklon B für den industriellen Massenmord geliefert, ohne das der Holocaust am jüdischen Volk nicht möglich gewesen wäre.“