■ ARTUR, BERLINOID
: Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen kommen überall hin

Artur erinnert sich gern an sie. Sehr gern. Sie ist eine von denen, die fremde Sprachen verstehen, wohl auch begnadete Mathematikerin, witzig, voller Erfindungsgeist. Ach, und sie ist belesen. Besonders der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ist sie verfallen. KollegInnen hielten sie denn auch für schrullig.

Seinerzeit stand sie bei einer dieser zweifelhaften Anstalten sogenannter Wissenschaft in Lohn und Brot; »ihr konstruktiver Arbeitseinsatz allerdings ist nicht über die Forderungen hinausgehend«, hörte Artur beflissen hinter vorgehaltenen Händen raunen.

»Nun«, war ihre Rede, »was man nicht kriegt, muß man sich nehmen«, und hatte immer öfter ihre Anstalt mit einem Jutesäckchen voller Klopapierrollen und Büroklammern verlassen, »aber man darf nix mehr ernst nehmen, Artur, das weißt du doch genau wie ich!«

Einverständlich von Artur bestätigt, zitierte sie ihren geliebten Anarchisten Johann Gottfried Seume: »Der Mensch gilt durchaus nur das, wozu ihn der Staat stempelt, und es ist keine Gefahr, daß Vernunft die Stempelordnung machen und halten werde, lieber Artur.« Ihre Spezialität waren ausgedehnte Museumsbesuche, dabei ebenso dem Genuß der Kunst verpflichtet wie der Idee, dort diesem Mann ihrer Träume, voller Überraschungen, zu begegnen. »Ich mag männliche Gesellschaft«, sagte sie mit erhobener linker Augenbraue, »aber muß sie immer gleich in Lebensphasengemeinschaft ausarten?« Sie ist Künstlerin, aufrecht, tapfer und genial, sie bekennt sich zu nichts, traut sich selbst.

Einmal führte das dazu, daß sie einen völlig abwegigen Prozeß gegen den Stromversorger führte. Nein, sie würde bei Kerzenlicht lesen, aber immer, und essen würde sie ohnehin nur bei Freunden, sie brauche keinen Strom. Ihre Verurteilung wurde in der zweiten Instanz bestätigt. Man zwang sie, die Grundgebühr zu entrichten, obwohl sie bei Gott während ihrer berlinoiden Zeit privat nicht ein einziges Kilowatt verbraucht hat.

Das war's dann. Von Stund an hörte sie auf zu lesen. »Mensch«, tippte sie sich an die Stirn, »alles, was ich da lese, ist doch schon passiert!«, und sie lehnte es ab, noch irgend etwas wieder regelmäßig zu tun.

»Menschen wie wir werden gebraucht!« hatte Artur versucht, sie bei uns zu halten, »entweder wir lachen, oder wir ...« Mit Jahrtausende alten und wunden Augen hatte sie Artur mitten ins Gesicht geblickt, irgendwas von Seßhaftigkeiten und Schlaffheit gemurmelt, von bedrohlich belanglosen Lebensläuften, und »ohne dich hätte ich all das nie geschafft, Artur«, ihn fröhlich mit vielen kleinen Kinderküßchen bedacht und ward von jenem Tage an nicht mehr gesehen.

Arturs Brief an ihre alte Wohnung wurde von einer als kompetent bekannten Anwältin beantwortet. Sie wünsche ausschließlich nurmehr sehr persönliche Kontakte, und — handschriftlich von ihr selbst hinzugefügt — sie habe sich für das Leben in wildem Komfort entschieden, wozu neben vielen anderen Dingen Liebe zum Wein, Unbeschwertheit des sexuellen Umgangs, Herumtreiben und Suche nach Anonymität gehörten. Auch habe sie Menschen gefunden, die intensiv riechen, selbstsicher sind und gescheit leben. Jene nun wieder, die es ja wissen müssen, schwören, sie lebe im Süden, wild und gefährlich. »Trockene Weine, lange Spaziergänge, Artur, man kennt das ja«, wird verständig hinzugefügt. Clemens Walter