WIRD VENEDIG ZUM DISNEYLAND?

■ Seit Jahrzehnten laufen der Lagunenstadt die Einwohner davon. Es fehlt an Arbeitsplätzen, An Wohnungen, an einer zeitgemäßen Infrastruktur. Initiativen zum Erhalt der Stadt beschränken sich auf...

Seit Jahrzehnten laufen der Lagunenstadt die Einwohner davon. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Wohnungen, an einer zeitgemäßen Infrastruktur. Initiativen zum Erhalt der Stadt beschränken sich auf die Restauration von Fassaden und die Organisation publikumswirksamer Spektakel. Touristen erfreuen sich daran. An den Bedürfnissen der Bevölkerung zielen diese Maßnahmen jedoch vorbei.

VONSUSANNEKILIMANN In leuchtendes Rot oder Blau sind die kleinen Häuser gewandet, in sattes Gelb oder kräftiges Grün. Farben, wie sie intensiver nicht sein könnten, konkurrieren mit dem azurblauen Himmel. Wer einen dieser sommerlichen Herbsttage auf Burano verbringt, einer von vierzig Inseln, die die Lagunenstadt Venedig umgeben, wird die Fremden verstehen, die sich in das pittoreske Eiland verliebt haben und hiergeblieben sind. Oder besser: die eines der buntverputzten Häuschen erworben haben und herkommen, um fern von Autolärm und Hektik auszuspannen, so oft es der Terminkalender erlaubt.

Die Fremden, „die Leute von draußen“, wie sie die Insulaner nennen, das sind vor allem Maler, Fotografen, Regisseure. „Sie kommen aus Mailand oder aus Turin“, weiß Luigi, der Gastwirt, der hier jeden kennt. „Und ein paar Deutsche“, sagt er, „sind auch dabei“. Doch die kleine Gruppe der „Zugewanderten“ kann den Prozeß nicht aufhalten, der seit fast zwanzig Jahren kontinuierlich voranschreitet: die Entvölkerung der Insel.

8.000 Menschen lebten zu Beginn der siebziger Jahre auf dem 215.000 Qudratmeter großen Areal, das sich noch bis 1923 selbst verwaltete und erst seitdem ein Ortsteil von Venedig ist. Inzwischen ist die Einwohnerzahl auf gut die Hälfte zusammengeschrumpft. Die Menschen, vor allem die jungen, zieht es aufs Festland — und sie haben dafür mehr als einen guten Grund. Unverhältnismäßig hoch sind die Lebenshaltungskosten, die wenigen verbliebenen Geschäfte lassen die Preise klettern. Die Instandhaltung der weit über hundert Jahre alten Häuser verschlingt stolze Summen, denn sämtliche Materialen für die Sanierung müssen stets vom Festland herangeschafft werden. Früher waren die Kosten leichter zu verkraften, meint Piero, der sein Haus am „Rio di Mezzo“, am Kanal, der mitten durch die Insel führt, gerade knallblau tüncht. Mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter lebt er hier, auf siebzig Quadratmetern. „Die gleiche Fläche“, erinnert er sich, „wurde früher von mehreren Generationen bewohnt. Die haben sich natürlich alle Ausgaben geteilt.“. Aber heute, da will eben jeder für sich sein. Und das sei ja auch richtig so.

Die eingeschränkte Mobilität schließlich stellt die Bewohner von Burano vor Probleme — zumindest seitdem die starke Industrialisierung des umliegenden Festlandes dem bis dahin wichtigsten Erwerbszweig, dem Fischfang, den Kehraus machte. Seither gibt es kaum noch Arbeit hier, von den drei oder vier Restaurants, die täglich auf Touristen warten, einmal abgesehen.

Ein paar Jahre nachdem der Industriehafen von Marghera die Produktion aufnahm, blieben die Netze der Lagunenfischer leer. Die Einleitungen von Blei und Aluminium hatten das empfindliche Gleichgewicht der seltsamen Süß-/Salzwasser-Zone zerstört. „Schollen und Meeräschen gab es früher hier“, seufzt der Rentner Giuseppe. „Heute fangen wir nur noch ein paar Kuttelfische“, davon aber kann kaum noch jemand leben. Wenn der Siebzigjährige heute die Netze auswirft, dann zum Zeitvertreib. Den professionellen Fischfang hat er aufgegeben, vor fünfzehn Jahren schon, und die Zeit bis zur Pensionierung als Bademeister am Lido überbrückt.

Der größte Teil der Erwerbstätigen von Burano arbeitet heute in den Restaurants von Venedig oder in den Fabriken der Vorstädte Mestre und Marghera. Ungewöhnlich früh fängt der Arbeitstag an. Das Liniendampfschiff braucht 45 Minuten, um Venedig zu erreichen, das auf der Luftlinie nur acht Kilometer weit entfernt liegt. Noch einmal so lange dauert die Weiterfahrt ins Industriegebiet Mestre. Wer ein eigenes Boot hat, ist unabhängig vom fahrplanmäßigen Stundentakt. Doch an trüben Tagen, wenn dichte Nebelschwaden über Stadt und Inseln liegen, spürt nur der mit Radargeräten ausgerüstete Liniendampfer die Fahrrinnen in der Lagune sicher auf.

Konzeptlosigkeit der lokalen Politik

Kühne Pläne wurden im Stadtrat von Venedig zu Beginn der achtziger Jahre diskutiert. Die Lagunenbewohner sollten mobiler werden — durch den Bau einer subaqualen Metro. Doch wie so viele Projekte zur Neugestaltung der alten Stadt blieb auch dieses Vorhaben ein reines Gedankenspiel, scheiterte am Gezänk der verantwortlichen Parteien auf den Verwaltungsebenen Kommune, Provinz und Region.

„Initiativen, die der Krise der traditionellen Gewerbe, der Abwanderung der Bevölkerung und dem Funktionsverlust des Lagunenraums entgegenwirken könnten, werden durch die Konzeptlosigkeit der lokalen Politiker blockiert“, erklärt Massimo Cacciari. Der Philosoph, Architekturprofessor und Vorsitzende der oppositionellen demokratischen Linkspartei im venezianischen Rat wirkt beinahe resigniert. An Ideen für die intelligente Nutzung der Strukturen, meint er, habe es nie gefehlt. Doch die Gleichgültigkeit, mit der in Venedig Politik betrieben wird, lege den Projekten, so Cacciari, immer wieder Steine in den Weg. — Auf die winzigen Inseln, die zwischen dem Festland und dem Lido liegen, dem weltberühmten Badestrand, der die Lagune von der Adria trennt, hatten amerikanische Universitäten ein Auge geworfen. Sommerschulen sollten hier eingerichtet werden, Ateliers, Ausstellungsräume, Begegnungsstätten für Studenten, Künstler, Wissenschaftler. Doch für die Verpachtung oder den Verkauf einiger Inseln konnte im städtischen Rat keine Mehrheit gefunden werden. So liegt ein Teil der Landfleckchen, die der Dogenrepublik einst als Standort für Mühlen und Salinen dienten, die Flächen boten für den Bau von Krankenhäusern und den Anbau von Gemüse und die sich schließlich während der beiden Weltkriege als Waffenlager eigneten, brach. „Die können wir jetzt nur noch verschenken“, meint Cacciari. So stehen die Dinge, traurig — aber wahr.

An mangelnden Konzepten für eine künftige Gestaltung leiden jedoch nicht allein die Inseln. Die desolate Entwicklung, die hier nur besonders drastisch deutlich wird, betrifft auch die Stadtteile im historischen Kern der Lagunenstadt. Auch hier ist sanierter Wohnraum knapp und überdies bei zahlungskräftigen Nichtvenezianern als Wochenend- Dependance beliebt. Wer verkaufen will, wartet bis 1993 — und reibt sich schon jetzt die Hände: Mit dem Ansturm auf den lokalen Wohnungsmarkt von gutbetuchten Interessenten aus dem europäischen Ausland kann gerechnet werden. In der Zwischenzeit wandern die Bewohner der historischen Stadtteile weiterhin aufs Festland ab, auch weil das Angebot an Arbeitsplätzen beständig sinkt.

Einst gab es Fabriken hier, eine Brauerei, ein Uhrenwerk und eine Waffenschmiede, die insgesamt 20.000 Menschen beschäftigten. In den fünfziger Jahren wurde den Unternehmen der Standort zu eng. Sie schlossen die Tore. Der Einwohnerschwund nahm seither ein besorgniserregendes Ausmaß an: 175.000 Menschen wurden bei der Volkszählung 1951 im historischen Herzen der Stadt gezählt. Bei der Erhebung 1981 waren es noch 92.000. 1991 wurde ein neues Tief erreicht. Mit 70.000 wird die Population im Zentrum der Stadt beziffert. Die Abwanderung der meisten jungen Menschen hat das Durchschnittsalter bereits auf 45 Jahre heraufgeschraubt.

Venedig wird zur Kulisse degradiert

„Der Trend hält an“, meint Cacciari und prognostiziert ein weiteres Absinken der Einwohnerzahl auf 40.000 innerhalb des nächsten Jahrzehnts. Zu stoppen wäre die Entwicklung nur durch eine vernünftige Verkehrs- und Mietpreispolitik, die den Standort Lagune wieder attraktiver macht. Mit der Ansiedlung von Forschungsinstituten, von Verwaltungszentren, so Cacciari, könnte der marode Arbeitsmarkt angekurbelt werden. Geschieht nichts, so wird Venedig allmählich zur Kulisse degradiert — zum Disneyland gemacht.

Wer hier bleibt, kann schon jetzt praktisch nur noch vom Tourismus leben. 65 Prozent des gesamten Umsatzes der Stadt macht der Konsum der Besucher bereits aus. Und das Geschäft mit den Massen verdirbt hier wie überall Originalität und Qualität des Angebots. Die filigranen Klöppelspitzen von Burano zum Beispiel lassen sich noch immer bewundern — im Inselmuseum allerdings. Die Spitzendeckchen, zu deren Besichtigung Touristen auf Burano allenthalten freundlich aufgefordert werden, erhalten durch kunstvolle Stiche höchstens noch den letzten Schliff. Das übrige ist maschinell gefertigt — wird aus China importiert.

In letzter Zeit fanden sich Sponsoren, die die Kommune beim Erhalt des alten Venedig unterstützen wollen. „Palazzo Grassi“, eine der prachtvollen Villen am Canale Grande, deren Fundamente im Laufe der Jahrhunderte morsch geworden waren, wurde vom Fiat-Konzern gekauft und von Grund auf restauriert. Nun werden in den 37 Sälen, die sich über drei Stockwerke verteilen, Ausstellungen der Superlative organisiert. Mit I Fenici — den Phöniziern— konnte Palazzo Grassi den internationalen Besucherrekord 1990 verbuchen. Die Stadt, in der jede kleine Kirche ihren Tintoretto, Tizian oder Tiepolo besitzt, profitiert nicht von den publikumswirksamen Aktionen. Zugute kommen sie letztlich nur dem Prestige des Konzerns.

„Einfach absurd“, ereifert sich Cacciari, war auch die diesjährige Filmpreisverleihung auf dem Markusplatz, die das italienische Fernsehen weltweit ausgestrahlt hat. Gelder, die zur Belebung der lokalen Infrastruktur dringend nötig wären, werden für die Inszenierung von Medienspektakeln vergeudet. „Oder glauben Sie, daß der berühmteste Platz der Welt noch Werbung braucht?“ Ohnehin zu viele zieht er an. Hunderttausende Jahr für Jahr. Mehr, als die delikate Bausubstanz unbeschadet ertragen kann.

Touristen und Selbstinszenierung

Für die Belange der Bürger hat die Kommune keine Lire in der Kasse. Wohnplätze für 20.000 Studenten fehlen ebenso wie Freizeiteinrichtungen für die einheimische Öffentlichkeit. Außerhalb der Filmfestspielwochen machen viele Kinos dicht, Subventionen werden überall gekürzt. Selbst auf das Schnellboot, das die Insel im Notfall mit dem städtischen Krankenhaus verbinden soll, warten die Bewohner von Burano schon jahrelang. Werden doch einmal finanzielle Mittel zum Wohle der Allgemeinheit lockergemacht, dann mutet das Resultat schon manchmal wie ein Schildbürgerstreich an. Burano zum Beispiel sollte ein Fußballstadion bekommen. Mit allem Drum und Dran. Monatelang lagerte das Material für den Bau der Tribüne auf der Inselspitze. Dann begann es zu versinken — mitsamt dem Erdboden, der unter der Last der Baustoffe nachgegeben hatte.