Brüderliche Hilfe

Sowjetische Geheimsache: Waffenexport und -produktion  ■ Von Mark Kramer

Bis zu den dramatischen Moskauer Ereignissen im August 1991 hatte Glasnost die traditionelle sowjetische Haltung der absoluten Geheimhaltung von Waffenexporten kaum angekratzt. Trotz der weitreichenden Reformen zu Hause und in der Außenpolitik, die durch Gorbatschow seit 1985 in Gang gesetzt worden waren, änderte sich in der Politik des Waffenexports fast nichts. Wenn überhaupt Veränderungen auszumachen waren, dann wurden eher noch mehr Waffen zur Erlangung von harter Währung in verschiedenen Drittweltländern verkauft.

Die Geheimhaltung, mit der die Entscheidungsstruktur für Waffenexporte weiterhin umgeben blieb, und der Mangel an wirksamer Kontrolle ermöglichten es dem Verteidigungsministerium und den Direktoren des militärisch-industriellen Komplexes, über derlei Belange absolute Kontrolle auszuüben. Die einzigen Statistiken über Rüstungsproduktion und -ausfuhr wurden von der sowjetischen Regierung ausgegeben und blieben notorisch dubios.

Bedenkt man die politischen Umwälzungen, die zur Zeit in der Sowjetunion stattfinden, könnte sich all dies schnell ändern. Jedoch gibt es keine Garantie dafür, daß eine veränderte Politik des Rüstungsexports weitreichend und schnell sein wird. Die Probleme, mit denen die Tschechoslowakei und andere osteuropäische Staaten zu kämpfen hatten, als sie nach 1989 ihre Rüstungsausfuhr zu reduzieren versuchten, sollte uns den Voraussagen über demnächst drastisch reduzierte Waffenexporte der Sowjetunion (oder Rußlands) in die Dritte Welt mit Vorsicht begegnen lassen. Die Aussicht auf harte Währung und der Wunsch, ihre Schlüsselindustrien zu erhalten, mag sowohl die sowjetische Regierung als auch die der einzelnen Republiken dazu verführen, weiterhin und für längere Zeit beträchtliche Mengen militärischer Ausrüstung auf den Markt zu bringen.

Man kann die Geheimhaltung, die dem gesamten militärisch-industriellen Komplex der UdSSR lange anhaftete, kaum übertreiben. Vor August 1991 waren sowjetische Waffenexporte für den Prozeß von Glasnost und Perestroika derart unzugänglich, daß viele prominente Experten, innerhalb und außerhalb des Landes, die Hoffnung aufgegeben hatten, jemals sinnvolle Daten hierzu von der sowjetischen Regierung zu erhalten. Einer dieser Experten, Herbert Wulf vom Internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm, bemerkte noch Mitte des letzten Jahres, daß selbst die einfache Frage danach, „wer in der Sowjetunion sich konkret mit Waffenexporten verantwortlich beschäftigt“, offenbar vollkommen unbeantwortbar war und blieb. Selbst zwei prominente sowjetische Experten auf dem Gebiet des Militärs, Aleksei Isyumow und Andrei Kortunow, beklagten: „Es ist doch außerordentlich bemerkenswert, daß der militärisch-industrielle Komplex der Sowjetunion die ,unaufdringlichste‘ Körperschaft der Welt ist. Nicht einmal die Orte scheinen bekannt — es gibt nur Geheimadressen.“ Manchmal sprachen sowjetische Beamte von irgendeinem Gesamtwert in Rubeln, zu dem Waffen in einem bestimmten Zeitraum exportiert worden seien, jedoch gaben sie nie an, wieviel sie in konvertibler Währung tatsächlich von ihren ausländischen Kunden erhalten hatten. Die Rubelangaben waren so gut wie wertlos. Weiterhin gaben sowjetische Behörden aus Anlaß einer Zahlenveröffentlichung bekannt, sie hätten den Rüstungsexport um soundso viel Prozent reduziert; allerdings fehlte dann jede Angabe einer Maßeinheit, nach der die Prozentzahl berechnet wurde. Waren es Geldwert, Gewicht, Anzahl der Waffen oder was? Ebensowenig war es möglich, auf unabhängigem Wege die Prozentangaben zu verifizieren.

Von der Geheimhaltung besonders betroffen war das Außenministerium. Selbst Eduard Schewardnadse wurde regelmäßig matt gesetzt. Meistens weigerten sich die Beamten des Verteidigungsministeriums, auch nur die elementarsten Informationen preiszugeben. Hohe Beamte des Außenministeriums wie Julii Worontsow und Wladimir Petrowskii beklagten sich wiederholt über die „exzessive Geheimhaltung, die nicht mehr durch Sicherheitsbestimmungen abgedeckt“ sei, und kritisierten die „absurden Schwierigkeiten, mit denen zivile Experten zu kämpfen haben, wenn sie nach Daten über die Streitkräfte fragen“.

Im Juli 1991 beschuldigte der stellvertretende Außenminister und Vorsitzende des Rüstungskontroll- und Abrüstungsausschusses im Außenministerium, Viktor Karpow, das Verteidigungsministerium und die Waffenindustrie eines „völligen Mangels an demokratischer Kontrolle und Glasnost“. Der militärisch-industrielle Sektor, so Karpow, weigere sich, sinnvolle Daten über die Verteidigungsindustrie herauszugeben, und arbeite zudem massenhaft mit „hinterhältigen Tricks“, um den Tranfer von Mitteln aller Art von der militärischen zur zivilen Produktion zu verhindern. Karpow bemerkte außerdem, daß andere Länder „sehr viel mehr detaillierte Informationen“ über die Militärproduktion veröffentlichten, als es die Sowjetunion jemals getan habe, und forderte „Sondergesetze“, die ähnliche Veröffentlichungen vom sowjetischen Verteidigungsministerium verlangen würden.

Andere Ministerien und staatliche Körperschaften hatten mindestens ebensoviel Schwierigkeiten wie das Außenministerium, an Informationen heranzukommen. Die Wirtschaftsreformgruppe, die von Gorbatschow 1990 unter der Leitung von Stanislaw Schatalin ins Leben gerufen worden war, beschwerte sich öffentlich darüber, daß das Verteidigungsministerium und die Militärabteilungen des staatlichen Planungskomitees ihnen den Zugang zu wichtigen Daten verweigerten. Selbst die persönliche Intervention eines Gorbatschow reichte nicht aus, die Wand der Geheimhaltung zu durchbrechen. Und auch die Erfahrung einer Gruppe führender Physiker des Kurtschatow-Atomenergieinstituts, die dem Verteidigungsministerium eine Liste von Fragen vorlegte, die ihre Arbeit betreffen, gab kaum zu Hoffnung Anlaß: Man beschuldigte sie, Westspione zu sein, die Staatsgeheimnisse zu stehlen versucht hätten. Die Physiker wurden ausführlichen Verhören durch das Komitee der Staatssicherheit (KGB) unterzogen.

Für sowjetische Parlamentarier ist der Zugang zu Informationen ebenfalls versperrt. Das Komitee zur Verteidigung und Sicherheit des Obersten Sowjet hat die Aufgabe, das Verteidigungsministerium und den KGB zu kontrollieren, jedoch waren fast alle Komiteemitglieder selbst entweder Berufsoffiziere, KGB-Angehörige oder Teil der militärisch-industriellen Elite. Sie hatten nicht das geringste Interesse daran, eine genuine Kontrolle auszuüben oder irgendwelche „geheimen“ Informationen mit ihren zivilen Kollegen zu teilen. Nach Auskunft eines Parlamentariers fand sich das Komitee am Ende meist im Besitz von „Statistiken, [die] völlig chaotisch zusammengestellt waren“, so daß es „unmöglich [war], irgend etwas zu verstehen“. Zivile Parlamentarier, die nicht Mitglieder dieses Komitees waren, hatten nicht einmal das Recht, geheime Daten über Rüstungsexporte oder andere militärische Angelegenheiten anzufordern, geschweige denn, sie zu gebrauchen. Man kann also sagen, daß eine parlamentarische Kontrolle oder Übersicht über Rüstungsexporte und -produktion vor dem August 1991 so gut wie nicht existent war.

Einige Hoffnungsschimmer

Bis in die späten achtziger Jahre wurden sowjetische Waffenexporte in der heimischen Presse überhaupt nicht erwähnt, außer in vagen Begriffen wie „umfassende Hilfe“ oder „brüderliche Militärhilfe“. Kein Wort jedoch fiel über die Art und den Umfang der ausgeführten Rüstungsgüter.

Wie so vieles in der sowjetischen Außenpolitik änderte sich auch dies nach den ersten Amtsjahren von Gorbatschow dramatisch. Zahlreiche Artikel über den sowjetischen Waffentransfer erschienen in sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften, besonders den liberaleren. Viele gaben vernichtende Einschätzungen der Motive und angeblichen Wohltaten sowjetischer Waffenexporte. In einem durchaus typischen Fall beklagen zwei zivile Experten, daß der sowjetische Eifer, mit Waffen auszuhelfen, „die politische Entwicklung junger Länder deformiert, ihre Gesellschaften militarisiert und ihre Außenpolitik zu Abenteuertum ermutigt“ habe.

Die Autoren behaupten außerdem, daß Konflikte in der sogenannten Dritten Welt wesentlich weniger ernst und langwierig gewesen wären, wenn sowjetische Waffen nicht so außerordentlich leicht zu beschaffen gewesen wären. „Die Sowjetunion muß einen großen Teil der Verantwortung für den Konflikt zwischen Äthiopien und Somalia und den iranisch-irakischen Krieg auf sich nehmen. In beiden Konflikten wurde von jeweils beiden Seiten mit sowjetischen Waffen gekämpft, die entweder direkt von Moskau oder über den Umweg über andere Staaten zur Verfügung gestellt wurden. Sowjetische Militärhilfe ist auch von repressiven Regimes dazu benutzt worden, interne Oppositionen, nationale Minderheiten und religiöse Bewegungen niederzuhalten.“ Andere Analysen argumentierten, daß sowjetische Rüstungsexporte „immer begründet waren in falschen Vorstellungen von der Dritten Welt“, durch die sich „die Sowjetunion zur Gefangenen von Konflikten machte“, was zum „Verlust von Prestige“ und zudem zu „Ergebnissen führte, die das direkte Gegenteil des eigentlich Intendierten waren“. Bemerkungen dieser Art wären vor Gorbatschow absolut undenkbar gewesen.

Die Informationen jedoch, die in solchen Diskussionen des sowjetischen Waffenexports benutzt wurden, stammten nahezu ausschließlich aus dem Westen. Besonders eifrig wurden von sowjetischen Experten die Berichte und Informationen der US-amerikanischen Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinigung und des Stockholmer Instituts für Friedensforschung gelesen. Am Ende der achtziger Jahre führte die Informationsnot zu einer wachsenden Flut von Beschwerden von sowjetischen Militärexperten. Ein typischer Artikel dieser Art in der Wochenzeitung 'Literaturnaya Gazeta‘ beklagte, daß „das heilende Licht von Glasnost noch nicht alle Hindernisse der uniformierten Bürokratien durchdrungen hat“ und daß sowjetische Experten so lange auf westliche Quellen über den Waffentransfer aus der Sowjetunion angewiesen seien, bis „unsere eigene Presse offizielle Daten hierzu veröffentlichen kann“.

Der Autor Juri Kornilow beschrieb dann im folgenden, wie ein prominenter Wirtschaftsexperte der Armee auf seinen, Kornilows, Vorschlag reagiert hatte, er könne doch im Verteidigungsministerium nach Daten über die Finanzierung von Waffenexporten fragen: „Er schaute mich entgeistert an. ,Wissen Sie denn nicht, daß diese Informationen nach wie vor geheim sind? Und selbst wenn ich sie am Ende erhalten würde, wäre das für mich das reine Unglück: Ich wäre dann im Besitz eines Staatsgeheimnisses und dürfte keine Auslandsreisen mehr machen, die für meine Arbeit aber nötig sind.‘“

Kornilow gab zu, daß die Haltung des Wirtschaftsexperten verständlich sei, fragte sich jedoch, ob diese Art von „Pragmatismus“ im Zeitalter von Glasnost wirklich noch zu rechtfertigen sei. Er folgerte, daß vielleicht die „Wächter der unantastbaren Aktenschränke“ im Verteidigungsministerium ihm helfen könnten, seine Zweifel zu beseitigen. Als er jedoch die Informationsstelle des Ministeriums um Klärung dieser Frage bat, kam nur die unmißverständliche Antwort: „Wir haben keinerlei Daten über Waffenlieferungen.“

Im Frühjahr 1991 behauptete einer der führenden zivilen Militärexperten, Sergej Rogow, daß das sowjetische Militär sein Budget erhöht habe und nicht etwa reduziert, wie von offizieller Seite erklärt worden war. Rogow untersuchte die Voraussagen des Verteidigungsministeriums für Militärausgaben bis 1995 und kam zu dem Ergebnis, daß die Ausgaben für Waffen und entsprechend beigeordnete Kosten steigen würden, selbst bei Abzug der zu erwartenden Inflationsrate. Dieser „geplante Kostenzuwachs für militärische Ausgaben zu einer Zeit, in der der Rüstungsbedarf radikal gesunken ist“, so Rogow, „wird vermutlich sämtliche Profitkalkulationen aus der Umstellung der Rüstungsindustrie zunichte machen“. Er beschuldigte das Verteidigungsministerium, in seinem Versuch, die Statistiken zu manipulieren, selbst vor glatten Lügen nicht zurückzuschrecken.

Die zunehmende Bereitschaft sowjetischer Experten, gegen den Mangel an Glasnost in bezug auf Rüstungsproduktion und -export zu protestieren, ist von außerordentlicher Wichtigkeit. Zwar konnte sie allein eine Änderung der offiziellen Politik der totalen Geheimhaltung nicht erreichen, aber sie war ein wichtiger Indikator für die wachsenden Forderungen nach der Freigabe detaillierter und genauerer Informationen. Zwar fällt es schwer, angesichts der Probleme, auf die selbst hohe Beamte stießen, wenn sie Zugang zu angeblich „geheimen“ Daten suchten, optimistisch zu sein. Die ausgeprägten Muster militärischer Geheimhaltung, die im übrigen schon lange vor dem sojwetischen Regime in Moskau regierten, werden sich gewiß nur langsam auflösen. Dennoch gibt es jetzt das erste Mal überhaupt Aussicht darauf, daß sinnvolle Daten und Informationen über den sowjetischen (oder russischen) Waffentransfer sowohl von westlichen als auch von offiziellen sowjetischen Quellen zu erhalten sein werden.

Der Autor ist Fellow am Russischen Forschungszentrum der Harvard-Universität.