Plausible Psychologie

■ Schwierigkeiten in der „Stieffamilie“

Ellen ist eine ziemlich normale Vierzehnjährige. Sofern man davon ausgeht, daß junge Mädchen in diesem Alter nie ganz „normal“ sind. Sie haben alle ein besonderes Problem: die Beine sind zu kurz oder zu lang, die Haare zu kraus, die Nase nicht in Ordnung, und überhaupt scheint die andere immer die schönere zu sein.

Ellen ist zu groß. Es ist nicht einfach für sie, einen Freund zu finden, der ihr wenigstens bis zur Schulter reicht. Sie lebt mit ihrer berufstätigen Mutter — der Vater, so glaubt Ellen, ist tot — in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie hat eine Freundin, über die sie sich ärgern kann, einen jungen Nachbarn, mit dem sie Ball spielt und ... ein Klavier in der Wohnung. Ein Erbe des Vaters, an dem sie sitzen, spielen und von ihrem „Prinzen“ träumen kann.

Abwesende Väter, tot oder berufstätig, werden leicht zu Helden verklärt. So auch von Ellen. Welcher andere Mann könnte da standhalten? Weder der neue Stiefvater noch der Junge von nebenan haben da eine Chance. Es wird also Zeit, die Tochter über den Vater aufzuklären, die Lüge, die gar nicht hätte in die Welt gesetzt werden dürfen, aufzudecken. Denn auch gute Mütter sind fehlbar, und so muß Ellens Mutter verspätet erklären, daß sie beide vom geliebten Mann verlassen wurden. Für Ellen entsteht damit eine kritische Situation, die sie aber zu meistern versteht. Auch Stiefväter können da äußerst hilfreich sein — wie in Ellens Geschichte.

Die von Joan Lingard einfühlsam und höchst verständlich erzählte Geschichte orientiert sich weder an eher jungenspezifischen Abenteuervorgaben noch am bekannten Muster „1 Mädchen und 1 Pferd“. Lingard schildert Beziehungen, legt Wert auf die Beschreibung innerer Vorgänge des kleinen, familiären Kreises ihrer Protagonisten, erzählt von Ängsten und Träumen realer Personen. Spannend: Es sind die kleinen selbstverständlichen Abenteuer des Alltagslebens, die die Autorin in ihrer ganzen Vielfältigkeit und Komplexität ausbreitet.

Dabei werden die Fähigkeit zur Besinnung und das Erkennen von Lebensnotwendigkeiten als menschliche Qualitäten anerkannt und gefördert. Die den Figuren zugeschriebene Psychologie wirkt sehr plausibel, die Einfühlung in die Akteure fällt leicht und vollzieht sich ganz unmerklich. Die Leserin wird vertraut mit den Eigenheiten, Schwächen und Stärken der beschriebenen Personen und entwickelt daraus das nötige Verständnis für deren Handlungsweisen. Eine schöne Geschichte für Mädchen, die abends mit einem Buch ins Bett gehen.

Leider läßt der Titel des Buches, Der Anstandswauwau, Wünsche offen. Zum einen deswegen, weil er einen simplen Nebenaspekt der Erzählung in den Mittelpunkt rückt, zum anderen, weil er als Begriff angestaubt und überholt wirkt. Bleibt zu hoffen, daß sich potentielle Käuferinnen durch den Titel nicht abschrecken lassen. Das Buch hätte das nicht verdient. Margaretha Schönerstedt

Joan Lingard: Der Anstandswauwau. Aus dem Englischen übersetzt von.... Spectrum Verlag, Fellbach 1991, 24,80 DM