Kampf der Lutschfeindlichkeit!

■ Statt Weihnachtsmärchen: Die wahre Geschichte vom Daumenlutscher / Stück & Regie: Gotthart Kuppel

Am Anfang war die Idee, und die war noch gut. Gotthart Kuppel, der sich vom Arzt und Judokämpfer über einen Schlappseil- und Schwarzwitzartisten zu einem all- abseitig entwickelten Theaterspieler und Spielenlasser entwickelt hat, fand die Idee in der Zeitung: ein Mann hatte einem Kind den Schnuller aus dem Mund entführt, nach Hause, wo die Polizei 757 weitere Schnuller vorfand. Kuppel, dessen theatraler Blick seinen Kick seit je aus Teebeuteln und Hühnereiern sog, sah vor sich ein Stück für große und kleine Lutscher: gegen die lutschfeindliche Moral von Struwelpeters Daumenlutscher sollte die Lustschlust mit allen Mittel des Spiels über den lutschlustfeindlichen Zwangscharakter (früher Struwelpeterautor heute: Polizist) triumphieren.

Dann kam die Realisierung und ging auch noch gut. Denn der Intendant des „Bremer Theaters“, Tobias Richter, war am Scheiden und froh, daß jedenfalls jemand anders hier eine Idee investierte. Plötzlich hatte Kuppel außer der Stückregie noch die Bühne des Schauspielhauses samt Fundus zur Verfügung.

Dann aber kam die Premiere und mit ihr das Publikum, die Lutschexperten, zwischen drei und dreizehn, ein Publikum, wie es keines besser, begeisterungsfähiger und unbestechlicher gibt. Und das hat gewogen und „nicht leicht genug“ befunden. Es hat zwischengerufen und durchgehend und parteilich kommentiert, daß es Brecht auf seiner Wolke die Freudentränen in die Augen getrieben hat. Es war zu Anfang ganz Auge, Mund und Ohr, plötzlich sehr verwirrt, lange Zeit von ein paar echt phantastischen Eisbeeren (ja doch!) bei Laune gehalten und am Ende eher ratlos. Das ist bei so einem Spitzenpublikum leider viel, viel zu wenig. Also, was war falsch?

Es geht los, und wir sehen auf

Eisbär, Weißbeer, Blaubeer, Maulbeer, Stachelbeer,

einer Bühne auf der Bühne die Fi

Männerkopf unten

vor 4 Eisbären

guren aus dem Daumenlutscher in Pappmache, Konrad, die Frau Mama und die übermächtige Schere. Und dann ist plötzlich der Teufel los, es knallt auf allen Gängen und Rängen, und die wilde Jagd des Polizisten auf den Schnullerräuber sprengt das Guckkastentheater. „Ist das jetzt Spiel oder was?“ Die erschrockenen Experten hinter mir rätseln ohne Ergebnis. Sehen sollen sie, daß das Leben anders ist als die lutschfeindlichen Struwelpetermoral und dann, daß das Leben auch nur Spiel und Theater (und lustbar wie dieses) ist.

Bloß so kommt es nicht an und kann es nicht ankommen. Denn das x-fach in Spiel aufgebrochene Spiel ist nur witzig für Erwachsene, für die Realität eins ist, Spiel, Phantasie, Irrealität aber ein klar getrenntes anderes. Kindern, denen die beiden Welten sich anders mischen, ist die wiederholte Entlarvung der Wirklichkeit als Spiel entweder betrüblich oder verwirrend. Betrübllich, wenn ein bezaubernder, sprechender Eisbeer (ja doch!) den Kopf abnimmt und bloß eine sprechende Schauspielerin ist. Verwirrend ist es, wenn das, was als pistolenknallende Realität einbricht, sich doch als Spiel erweist. Am Ende gibt es

vor Spielen die Wirklichkeit nicht mehr. Ein Rumrätseln im Irrgarten ist aber auch theatralisch eher Alp als Vergnügen.

Wo einerseits zuviel Spiel war, war–s andererseits entschieden zuwenig. Zum Beispiel taucht da ein lutschlustiger Eisbär auf. Der variiert singend das Lied von „Icecream — You scream“ auf Eisbär, Erbeer, Maulbeer und immer so weiter. Und der Eisbeer hat sowas Lustvolles, das aus dem Verbotenen kommt, das uns gerade scharf macht, und plötzlich sind da vier Eisbeeren mit so süßen kleinen Eisbeerenschwänzen machen so verruchte Hüftschwünge, und der kleine Pazifist im Parkett vorne links, der bisher immer nur vernehmlich „Nicht schießen“ gegen des Polizisten Ballerei eingewandt hat, fließt jetzt dahin vor Eisbeerenherrlichkeit. Und erst als der Schnullerräuber seinen weiten Mantel öffnet, so wie ein Exbitionist, und dann entsprechend anstößig ein herrliches Mantelfutter voll Schnullies aller Farben vorzeigt, da gickst der Saal vor verschwörerhaftem Einverständis mit den verbotenen Lutschern aller Länder. Ein bißchen verboten, bitteschön, muß die Lust schon bleiben, nicht bloß einfach gesund und etwas, das man „braucht“, wie der Autor- Regisseur meint. Mit der Lust ist es wie mit dem Theater und der Phantasie: wenn die nicht mehr himmlische Gegenwelt zu der höllischen Welt der Arbeit und der Wirklichkeit sind, dann ist alles eins und der Himmel wird Hölle. Uta Stolle