Kaputte Macht

■ Gerd Heinz inszeniert „Karate-Billy“ am hannoverschen Ballhof

Karate-Billy kehrt zurück — auf dreizehn deutschen Bühnen mittlerweile. Aus der Psychiatrie direkt in die Tubulenzen der Wende, kurz vor der Währungsunion in der Ex-DDR. Im real existierenden Sozialismus war Karate- Billy das glänzende Aushängeschild eines stockfleckig gewordenen Staates. Der Mythos eines sich selbst befreienden Individuums, Reisekader, in einem Meer von Unfreiheit, bis ihn eine Denunziation hinter Gitter bringt. Der Zehnkämpfer und potentielle siebenfache Goldmedaillengewinner der Olympiade von 1976, ein Athlet wie aus der Antike, der den Diskus schon als Schüler über den ganzen Sportplatz bis in das Dach der HO Halle warf, wird wegen angeblicher Republikflucht zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, dann durch „Fürsprecher“ in die Psychiatrie verbracht. Nun, da sich die Türe der Asyle öffnen, kommt er zurück und zerschlägt Porzellan. Er sucht die Verantwortlichen, aber trifft auf solidarisches Schweigen und verzweifeltes Vertuschen. Mit seinen Fragen sticht er wie in Watte.

Schließlich geht er den Menschen, mit einem Schlachtermesser bewaffnet, an den Hals. Und siehe da, Freund wie Feind, jeder ist auf die eine oder andere Weise in seinen Fall verwickelt, trägt Mitschuld an seinem Schicksal. Das Schlußtableau: Eine Phalanx von Tätern vor ihrem Opfer; und die Täter sind selbst Opfer eines korrupten Systems.

Was wir hier theatralisch verdichtet sehen, ist das, was wir eigentlich schon lange wußten. Wie miefig und piefig, wie kleinkariert und kaputt diese Macht in der ehemaligen DDR war, wie sie sich offensichtlich nur durch eine Maschinerie der Bespitzelung zu behaupten wußte, die bis in die Familien reichte. Wo jeder mitmachte, nolens volens, und jeder seine Entschuldigungen hatte. Ein mieses, kaum zu entwirrendes Netz von Belastung und Entlastung, Schuld und Unschuld. Der Streit Biermann/Anderson scheint da nur noch Symptom.

Vielleicht ist ja, wie Klaus Pohl glaubt, alles noch viel schlimmer als in seinem Stück geschildert, Obwohl es schon reichlich kolportagehaft zugeht, wenn Billy mit dem Messer in der Hand sich an die Wahrheitsfindung macht. Pohl läßt wirklich nichts aus. „Wo er hinsieht, grinst die Gemeinheit zurück“, titelte die 'Weltwoche‘ einen Artikel über ihn und nannte seine Jagdszenen aus deutschen Landen „B-Pictures aus der Provinz“.

Der Pfarrer pfeift auf das Beichtgeheimnis und verpfeift willig sein Schäfchen Billy, um die Tochter zu schützen, die auf den Strich geht. Mit großen Gesten und in fahriger Selbstzerknirschung: Hannes Riesenberger. Seine Tochter, jetzt Serviererin, früher Billys Freundin, spielt Juliane Köhler, sehr überzeugend mit staksigem, schnoddrigem Schulmädchen- Sex. Die Frau des Bürgermeisters flickt Billy was am Zeug, um ein Verhältnis besser zu vertuschen. Von latenter Geilheit und glaubhaft niedergedrückt durch Mann und Verhältnisse, Sibylle Brunner. Als Arzt, der, seine Karriere im Blick, willig Spritzen bereit hält und Atteste unterschreibt, weinerlich wehleidig, Ernst Erich Buder. Und schließlich Billys eigene Schwester, von inzestuösem Liebeswahn geplagt, als eigentliche Drahtzieherin seines Falles. Angela Müthel spielt sie zwischen eifersüchtiger Glucke und machtbewußter Domina.

Am Ende wird der Entlarvung noch ein Verwechslungsmelodram hinzugefügt — zuviel des Guten. Warum muß der kleine Spitzel Urban plötzlich als mächtiger Oberst demaskiert werden, der noch dazu von Dieter Hufschmied reichlich klischeehaft gegeben wird, zwischen folkloristischer Anbiederung und irgendwie abgeguckter Gefährlichkeit. Der Bürgermeister dagegen (Günter Kütemeyer), den alle den kleinen Ceaucescu nannten, ist nur Befehlsempfänger. Aber selbst der wirkt in seiner angstmachenden Bonhomie und rotbäckigen Leutseligkeit immer noch viel gefährlicher als Urban.

Billys absurde Hoffnung, nachdem nun alles ausgesprochen sei, könne die allgemeine Umarmung beginnen, wird, wen wundert's, als Trugschluß entlarvt. Die Figuren sind wie paralysiert. Übt Pohl Kritik an den Propagandisten einer „Alles- auf-den-Tisch“-Haltung? Werner Haindl als Billy macht jetzt wirklich einen irren Eindruck. Zwar hat er den Urban abgestochen, aber quasi aus Versehen, ungewollt und im Affekt. Beim Läuten des Unfallwagens werden die anderen lebendig. Alle wollen nun die Schuld auf sich nehmen. Da ist ein Gedränge, sich zu opfern, daß man kaum so schnell folgen kann.

Gerd Heinz hat das Stück für Hannover mit viel Verve eingerichtet. Die Langeweile, die sich im 2. Akt breitmacht, wenn die Schwester dem Bruder ihr Liebesverlangen, nicht aber ihre Schuld an seinem Schicksal gesteht, ist dem narrativen Tenor des Stückes geschuldet, nicht der Inszenierung. Heinz, der schon in Hannover mit einer Schwärmer-Inszenierung von sich reden machte, hat getan, was er konnte. Michael Stoeber