: Genie und Wahnsinn
■ Der völlig ausgeflippte Henri Leconte trieb Frankreich im Davis-Cup-Finale zur 2:1-Führung gegen die USA
Berlin (taz) — Pete Sampras konnte einem leid tun. Im zweiten Match des Davis-Cup-Finales gegen Frankreich im Palais Gerland von Lyon mußte er nicht nur gegen Henri Leconte antreten, sondern auch gegen dessen geballte, in einer langen, nicht immer freudvollen Tenniskarriere angestaute Wut und gegen 8.000 Franzosen, die den mittlerweile im Davis Cup üblichen fanatischen Patriotismus zu neuen Gipfeln trieben. Leconte, auf vielen Plätzen der Welt wegen seines phänomenalen Ballgefühls und seines lustigen, extrovertierten Wesens ein gern gesehener Gast, hatte es gerade in seinem Heimatland immer schwer gehabt. Stets im Schatten des großen Yannick Noah stehend, hatten seine Erfolge in Frankreich nie die gebührende Anerkennung gefunden, und selbst, als er 1988 ins Finale der French Open vordrang, bekam er nach einer glatten Dreisatzniederlage gegen Mats Wilander nichts als Schmähungen und gellende Pfiffe zu hören.
In den letzten Jahren hatten ihn zudem mehrere Verletzungen aus der Bahn geworfen, und vor dem Match gegen die USA fehlte es nicht an Stimmen, die eindringlich davor warnten, ihn als Einzelspieler zu nominieren. Doch Yannick Noah, mittlerweile Kapitän des französischen Davis-Cup-Teams, vertraute auf die Erfahrung seines alten Rivalen, stellte Henri Leconte auf und durfte sich für seinen Weitblick feiern lassen.
Nach der Niederlage Guy Forgets zum Auftakt gegen Andre Agassi (7:6, 2:6, 1:6, 2:6) brauchte Frankreich dringlichst den Punkt aus dem zweiten Match, um nicht schon am ersten Tag in eine schier hoffnungslose Situation zu geraten. Und Henri Leconte rannte, wühlte und prügelte die Bälle, als ginge es um sein Leben. Spielerisch war er dem 17jährigen Masters- Gewinner Sampras unterlegen, aber sein Kampfgeist machte dieses Defizit mehr als wett. Tollkühn stürmte er ständig ans Netz, schnellte mit einer Behendigkeit umher, die man seinem nicht gerade mageren Körper, der in Lyon zusätzlich noch von Paul Bocuse mit erlesenen Delikatessen traktiert worden war, kaum zugetraut hätte, und wo immer Sampras seine Passierbälle hinspielte, Leconte war da. Mit Urgewalt schmetterte er die Lobs des Amerikaners ins Feld und sein Meisterstück war eine eingesprungene Rückhand, die jedem Tennislehrer sofortige Grauhaarigkeit beschert hätte. Etwa einen Meter über dem Boden schwebend, fetzte er den Ball aus dem Handgelenk ins äußerste Eck des gegnerischen Feldes.
Nach jedem Punktgewinn brüllte Leconte wie ein Stier im Liebesrausch, ballte die Faust gleich im Dutzend und stapfte grimmigen Blickes und finster grummelnd zur Grundlinie, während ihn das Publikum mit halbminütigen stehenden Ovationen feierte, so als habe er gerade ganz allein die Bastille erstürmt. Auch in den Pausen starrte Leconte mit verkniffen-martialischer Miene vor sich hin und Yannick Noah redete beschwichtigend auf den völlig überhitzten, vor Motivation fast berstenden 28jährigen ein, um ein verfrühtes Auseinanderplatzen des wandelnden Tennisvulkans zu verhindern.
Pete Sampras hatte dem lärmenden Konglomerat aus überkochendem Nationalismus und blankem Haß nichts entgegenzusetzen als seine traurigen Augen und seinen ersten Aufschlag. Das war zu wenig. Das Break, das die Partie vermutlich gekippt hätte, blieb ihm verwehrt, obwohl er besonders am Ende des ersten und am Anfang des zweiten Satzes etliche Breakbälle hatte. Doch jedes Mal entrann Leconte mit äußerst riskantem und gelegentlich genialem Spiel, vorwärtsgepeitscht von einer unbändigen Energie, diesen brenzligen Situationen. Sampras hingegen verlor, zermürbt von den langen Jubelpausen zwischen seinen Aufschlägen, dreimal sein Service, fein säuberlich verteilt, am Ende jedes Satzes; zum letzten Mal beim Stande von 4:6, 5:7, 4:4. Mit 0:40 lag er zurück, zweimal konnte er das Unheil noch abwenden, doch dann war das entscheidende Break perfekt. In seinem folgenden Aufschlagspiel fabrizierte Leconte, irgendwo in überirdischen Tennisregionen schwebend, nur noch Asse und sprang danach voller Begeisterung Yannick Noah an.
„Sampras bekam den Kopf nie aus dem Sack“, frohlockte der französische Teamchef, Leconte sprach vom „glücklichsten Tag in meinem Leben“ und sein US-amerikanischer Kollege Tom Gorman sagte fassungslos, noch nie habe er im Davis Cup jemanden so gut spielen sehen wie diesen Leconte.
Und auch am zweiten Tag war Henri Leconte der Held. Beim Doppel wandelte er erneut an der Grenze zum Wahnsinn, war der absolut dominierende Spieler auf dem Platz, putschte seinen Partner Guy Forget, der sichtlich mit seinen Nerven zu kämpfen hatte, permanent auf, animierte das Publikum zu hysterischen Anfällen und machte nebenbei noch die wichtigen Punkte.
Die USA hatten nach den schlechten Erfahrungen mit Pate/ Davis, die im Halbfinale gegen die Deutschen Stich/Jelen verloren hatten, wieder auf die Altmeister Flach/Seguso zurückgegriffen. Doch während Ken Flach hervorragend spielte, fiel Robert Seguso, der inzwischen das äußere Erscheinungsbild eines versoffenen Tankstellenpächters angenommen hat, stark ab und die Franzosen gewannen die ersten beiden Sätze mit 6:1, 6:4. Nachdem die USA den dritten Satz mit 6:4 für sich entschieden hatten, gab den Ausschlag im vierten Durchgang, daß Forget wieder stärker wurde und Flach gleichzeitig nachließ.
Das 6:2 bedeutete die 2:1-Gesamtführung, und das euphorisierte Publikum ließ keinen Zweifel daran, wer der Vater dieses unerwarteten Zwischenresultats von Lyon war: Der Saal hallte wieder vom Spitznamen Henri Lecontes: „Riton, Riton“. Matti Lieske
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