Wie rechnet man mit einer Epoche ab?

Auf dem zweiten Alternativen Juristentag debattierten vierhundert Rechtsgelehrte über „Unrecht, Versagen und Schuld in der DDR“/ Die Pole der Veranstaltung: die Berliner Justizsenatorin Limbach und der Wittenberger Pfarrer Schorlemmer  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

„Unausweichlich und strittig ist die Frage, wie die Vergangenheit der DDR bewältigt werden soll“, hieß es obenan in der Einladung zum zweiten Alternativen Juristentag, dem am Wochenende vierhundert Richter, Rechts- und Staatsanwälte in das hannoversche Funkhaus folgten. Gemeint war die Bewältigung von staatlichem „Unrecht“ von „Schuld und Versagen“ im vergangenen, mit der Einheit untergegangenen, zweiten deutschen Staat.

Schuld und Versöhnung

Aus der ganztägigen Diskussion, deren Pole die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach und der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer markierten, wurden den Juristen aus dem sozialdemokratischen bis grün-alternativen Spektrum von vornherein nur Antworten versprochen, die gebrochen bleiben würden. „Versöhnung in der Wahrheit“ und Aufklärung nicht nur ehemaliger DDR- Bürger über sich selbst, empfahl vordringlich Schorlemmer. Der Justizsenatorin dagegen ging es darum, ein abermaliges Versagen der deutschen Justiz bei der Bewältigung „totalitärer Vergangenheit“ zu vermeiden.

Natürlich wollte Jutta Limbach in ihrem Vortrag keineswegs, „den staatlichen Gewaltmißbrauch in der DDR mit der Perversion des Rechts im Nationalsozialismus gleichsetzen“, dennoch diskutierte sie Unrecht, Versagen und Schuld in der DDR, namentlich das Grenzgesetz und den Schießbefehl, auf dem „Hintergrund der Zweifel und Einsichten, die seinerzeit die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit begleitet haben“. Sie stellte die Frage nach dem Verhältnis des gesetzlichen Unrechts zu übergesetzlichem Recht, nach dem Verhältnis von Recht und Moral. Gustav Radbruch folgend, konstatierte sie, daß „unrichtiges Recht dann der Gerechtigkeit zu weichen hat, wenn der Widerspruch des Gesetzes zur Gerechtigkeit eine unerträgliches Maß erreicht“. Dieses unerträgliche Maß sah die Justizsenatorin beim Grenzgesetz der DDR erreicht. Dieses habe nur dazu gedient, das wirtschaftliche Ausbluten der DDR zu verhindern und damit die Herrschaft des poltischen Systems zu sichern. In den Verfahren gegen Grenzsoldaten hätten die Gerichte nun zu prüfen, ob der Todesschütze bei Anspannung seines Gewissens dieses unerträgliche Mißverhältnis erkennen mußte. Bei Schreibtischtätern ohne Unrechtbewußtsein und traurigen Greisen sei allerdings der Resozialisierungsgedanke fehl am Platze. Hier sei die Strafe ein Mittel, „das Unwerturteil über die Verletzung von Rechtsgütern zum Ausdruck zu bringen und damit die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken“.

Nicht den Zusammenhang von „Schuld und Sühne“ sondern den von „Schuld und Versöhnung“ thematisierte Pfarrer Schorlemmer und rückte einiges gerade: „Es gab wirkliche Opfer in der DDR: Abgehörte und Erpreßte, Verletzte und Vertriebene, Entlassene und mundtod gemachte.“ Doch die DDR sei weder die Sowjetunion Stalins, noch das Rumänien Ceaucescus geswesen. Die SED war für ihn eine „ambivalente Organisation, in der es Gutgläubige und Karrieristen, Überzeugte und Verbrecher“ gleichermaßen gab. „Selbst die Mauer ist zunächst unter der Voraussetzung unvereinbarer politischer und ökonomischer Blöcke ambivalent gewesen“, sagte der Pfarrer und erinnerte daran, daß diese Anfang der sechziger Jahre die Blockkonfrontation entschärfte, daß im Jahre 1962 mit der Kubakrise noch real der Atomkrieg drohte.

Was an Mut fehlte, kommt als Wut empor

Jetzt nachträglich, so kritisierte der Pfarrer aus Wittenberg, käme in der ehemaligen DDR „eine Art Opfermentalität auf“, auch bei denen, „die mehr passiv vom Unrechtsmachtapperat der SED betroffen waren“. Es sei nicht nur Resultat von Friedfertigkeit, sondern auch von Untertanenmentalität gewesen, daß es während des revolutionären Umbruchs in der DDR keine Gewaltübergriffe und keine Racheakte gegeben habe. Gerade bei jenen, die nicht wie die Oppositionellen aus Einsicht, sondern aus Angst auf Gewalt verzichtet hätten, äußere sich jetzt ein generelles Rachebedürfnis, das vom Staat verlange „Recht als Rache“ auszuüben. „Mich entsetzt die hier und da massiv zutage tretende Rachementalität, wobei wiederum vom Staat erwartet wird, daß er das tut, was der einzelne nicht tun will“, sagte Schorlemmer mit Blick auf die Erwartungen, „endlich reinen Tisch mit den roten Socken zu machen.“ Was früher an Mut gefehlt habe, komme da jetzt als Wut empor. „Hier tut schmerzliche Selbstaufklärung über unser aller Verstrickungen in einem totalitären System not.“ Dadurch will Schorlemmer vermeiden, daß der „Volksterror dem Staatsterror“ folgt, der ungesteuerte Haß dem gesteuerten.

Von einem „gesellschaftlichen Tribunal“ zum Zwecke dieser Selbstaufklärung sprach der Pfarrer in Hannover „nur noch in Anführungszeichen“. Er favorisierte die Gründung eines zeitgeschichtlichen Zentrums „Leben im geteilten Deutschland“, zu dessen Eröffnung „eine Zentralkonferenz stattfinden“ soll, der dann regionale Foren folgen. Diese sollen sich verschiedenen Lebensbereichen wie Schulsystem, Wahlsystems oder Rechtssystem zuwenden. Dabei sollen die Funktionsmechanismen der Diktatur erkennbar und ein „breiteres Bewußtsein über den Unterschied zwischen Moralität und Legalität“ geschaffen werden.

Viel Beifall für Schorlemmer, Beifall für und Widerspruch gegen die Senatorin Limbach — so reagierten die knapp vierhundert alternativen Juristen und Juristinnen auf die beiden pronocierten Referate.

Das Bundesvorstandsmitglied der Humanistischen Union, Jürgen Seifert, warf der Justizsenatorin vor, sich mit dem Verfahren gegen die Mauerschützen „nicht gegen die wirklichen Verbrecher zu wenden“. Von einem vorprogrammierten Scheitern der Aufarbeitung der vergangenen DDR durch die Justiz, sprach der Bochumer Rechtsanwalt Lutz Eisel: Auch in der Bundesrepublik hat es in den letzten vierzig Jahren staatliches Unrecht gegeben, das nicht verfolgt wurde. Das staatliche Unrecht habe sich in BRD und DDR in bestimmten Bereichen nur graduell unterschieden, sagte der Anwalt mit Blick auf den Umgang mit den Gefangenen aus der RAF.

Rechtaufbau im Osten durch Rechtsabbau im Westen?

Der Alternative Juristentag hat beleibe nicht nur juristische sondern auch explizit politische Diskussion geführt. Gerade um über den juristischen Tellerrand hinauszublicken standen da auch die Einwanderungspolitik, das „Geschlechterverhältnis als Produktionsverhältnis“ (Frigga Haug) und das Thema Menschen zerstören die Umwelt — die Uhr läuft ab auf dem Programm. Zu einer grundlegenden Frage der gegenwärtigen Rechtspolitik allerdings verabschiedeten die vierhundert TeilnehmerInnen mit großer Mehrheit eine Resolution. Darin verwahrten sich die Juristen „gegen die sonderbare Vorstellung, daß man im Osten einen Rechtsstaat dadurch aufbauen kann, daß man ihn im Westen abbaut.“ Dies drohe durch das geplante „Entlastungsgesetz“, mit dem nicht nur Rechtsmittel entfallen und Kollegialgerichte eingeschränkt werden sollen. Sogar Gefängnis bis zu einem Jahr soll nach diesem Gesetz ohne Gerichtsverhandlung verhängt werden können.