„Das machen wir mal in der Praxis“

■ Projektwoche für 115 Bremer HauptschülerInnen / Berufs- und Lebensplanung

Heute bleibt die Klasse leer: Projektwoche in der HauptschuleFoto: Katja Heddinga

„Kippen aus!“ heißt erstmal die Devise zu Beginn der ersten 'Unterrichts'-Stunde. Murrend löschen einige Jungs der 9. Klasse der Hauptschule Pestalozzistraße die Glut und verstauen die Zigarette hinter'm Ohr — die nächste Pause kommt bestimmt. Alles ist in einer Projektwoche eben doch nicht anders.

In der letzten Woche haben insgesamt 115 Hauptschul-SchülerInnen aus dem Bremer Westen Wachsbohnermief und Tafelkreide hinter sich gelassen, um sich stattdessen in diversen Jugendfreizeitheimen mit „Lebensplanung und Berufsperspektiven“ auseinanderzugesetzen. Dieses Motto hat die Landeszentrale für politische Bildung für die zum zweiten Mal durchgeführte Projektwoche ausgegeben.

Im Jugendfreizeitheim Oslebshausen ist entgegen aller Gewohnheit bereits um 9 Uhr der Bär los: Die zwanzig SchülerInnen der neunten Klasse der Hauptschule Pestalozzistraße haben sich zum morgendlichen Ausgleichssport als erstes auf Tischtennisplatte, Billardtisch und Kicker gestürzt — die erste halbe Stunde des 'Schultages' vergeht

hier bitte das Foto

mit der leeren

Schulklasse

mit Austoben.

Dann soll es losgehen — mit einer Simulation von Vorstellungsgesprächen. Sozialpädagoge Erwin Böhm, der hier als Teamer die Projektwoche durchführt, steht erstmal einige Zeit wartend an der Wand. Dann kann er die günstige Gelegenheit, daß weniger als drei Leute auf einmal reden, nutzen, um auch mal was zu sagen.

Auf dem Boden ausgebreitet liegen Collagen vom Vortag. Thema: Wie stelle ich mir mein Leben in zehn Jahren vor? Oh Rückfall in vergangen geglaubte Zeiten: Durch die Reihe wollen die 15-16jährigen a) viel Geld, b) ein tolles Auto, c) eine möglichst traumhafte Ehe. Diverse mit Weichzeichner aufs Papier gebannte Liebespaare prangen groß in der Mitte vieler Collagen. Zwei der Mädchen wollen unbedingt Jordan von den 'New Kids on the Block' heiraten, einige Jungs träumen von der Karriere als Fußballprofi.

Was nach Meinung der Schüler eigentlich Sinn der Sache ist? „Wir können hier mal in Ruhe über Zukunft nachdenken“, meint Jens, „ohne daß wir immer

nur auf die nächste Stunde gucken müssen.“ 'In Ruhe' ist eindeutig ein subjektives Empfinden, fast permanent hämmert 'James Brown is dead' durch die Räume des Freizis, in den Pausen über Anlage, während der Gruppenarbeit aus dem Walkman. „In der Schule ist immer so eine Scheiß- Atmosphäre“, sagt Jani und fleezt sich in den Sessel, „hier ist alles viel lockerer“. Gut finden die meisten, was sie hier machen — und „das hat auch was mit uns selber zu tun“, beantworten sie die Frage des Teamers.

Am Vortag ging es auch um Bewerbungen. „Das machen wir jetzt mal in der Praxis“, erklärt Erwin Böhm und zieht zwei Tüten mit Pappschildern hervor. Darauf: Gängige Fragen von Chefs in Bewerbungsgesprächen und — wie sich noch herausstellt — nicht ganz so gängige Antworten der potentiellen BewerberInnen. „Mit diesen Schildern sollt ihr ein Bewerbungsgespräch simulieren“, und schwupp sitzen vier Jungs vorne am Tisch und simulieren fleißig drauf los. Cheffrage: „Was haben Sie denn zu bieten?“ „Schöne Beine“, ruft ein Mädchen dazwischen, Gelächter. Erst im dritten Durchgang spielen auch mal zwei Mädchen die Chefs.

Während bei den Jungs Fragen wie „Was haben Sie für Hobbys?“ mit „Das geht Sie gar nichts an“ beantwortet werden, das wiederum mit einem spontanen „Sie sind leider nicht geeignet“ quittiert wird, lassen sich die 'Chefinnen' so ziemlich jede Antwort bieten („Sind Sie oft krank?“ — „Blödmann“) und stellen die beiden Bewerber trotzdem ein.

Pause. Kippen raus — („Ey Carlo, rauchst Du auf Lunge?“) und ab zum Ringelpietz. Dann geht's in Gruppenarbeit weiter, der Sozialpädagoge will wissen, inwieweit der momentane Berufswunsch von außen beeinflußt wurde. „Ich behaupte, das habt Ihr Euch nicht alleine ausgedacht“ — Protest — „Überlegt mal, wer da was zu gesagt hat, Eltern, Freunde, Lehrer... ihr habt zwanzig Minuten Zeit.“ Kaum ist Erwin aus dem Raum, geht ein mittleres Chaos los, Chips, Schokolade und Gummibärchen kreisen in Mengen. „Was heißt denn beeinflußt, na niemand...“ schwirrt es dann durch den Raum — Matthias will zum Bau. Und, was sagt zum Beispiel Dein Vater dazu? Na, nix. Wirklich nicht? Was soll er sagen, der ist doch selbst beim Bau...

Morgen werden alle einmal antesten können, ob ihnen ihr Berufswunsch nach einem Tag in der Praxis noch immer so gut gefällt. Probleme, einen Platz zu finden, gibt es nicht — die Handwerksbetriebe haben mehr Plätze angeboten, als gebraucht wurden. Das im letzten Jahr festgeschriebene Konzept, daß Mädchen sich in Männerberufen umgucken sollen, ist dieses Mal etwas aufgeweicht — zwei der Mädchen gucken sich halt doch im Friseurladen um die Ecke um. Sonst geht es in die Werkstatt, den Einzelhandel, und zum Schildermacher — raus aus der Atmosphäre von „Klassenfahrt mit Zu-Hause- schlafen“, wie Böhm es ausdrückt. Rein in die harte Realität. Susanne Kaiser