Kain und Abel

Shakespeares „Othello“ beim Roma-Theater Pralipe in Mülheim an der Ruhr  ■ Von Gerhard Preußer

Nicht Othello schminkt sich schwarz, sondern die Gesellschaft schminkt sich weiß. Zu Beginn der Aufführung kommen alle Schauspieler auf uns zu und schmieren sich weiße Schminke ins Gesicht. Alle, außer einem, dem Darsteller des Othello. Am Ende kommen sie wieder aus der Bühnentiefe nach vorn und schminken sich ab: vom hellen Teint der Mitteleuropäer zurück zu ihrem indischen Bronzeton. Nicht Othello ist anders, sondern seine Umwelt. Othello ist, was er ist: ein Fremder in Europa, ein Roma.

Die Identifikation der Roma- Truppe mit dem Mohr von Venedig, dem leidenschaftlichen, heimatlosen Außenseiter, lag nahe. Doch die Inszenierung verläßt sich nicht auf solch oberflächliche Analogien. Sie setzt nur dieses eine Zeichen an den Anfang und an den Schluß. Sonst meidet sie jeden direkten Bezug. Es geht nicht um Folklore, sondern um Theater. „Othello“ ist die dritte Produktion des Roma-Theaters, seit es aus Skopje nach Mülheim kam. Seine Finanzierung scheint vorläufig gesichert, und der Erfolg seiner ersten Inszenierung von Lorcas Bluthochzeit gibt Roberto Ciullis Versuch recht, sein Theater an der Ruhr zu einem multinationalen Projekt zu erweitern.

Pralipe nach Mülheim zu holen war kein karitativer Akt, sondern die Konsequenz seiner Konzeption von Theater. Ciulli geht es um die Entwicklung einer Theatersprache jenseits der Worte, eines Theaters, das die Verabsolutierung des Dialogs im neuzeitlichen Drama sprengt und dem Theater eine neue, autonome Position sichert.

Erst eine solche Theatersprache ermöglicht multinationales Theater, und nur dies ist ein Theater auf der Höhe der Zeit. Pralipe hat unter seinem Regisseur Rahim Burhan eine Ästhetik entwickelt, die in dieses Konzept paßt. Nur ein Theater, das eine eigene Sprache spricht, kann bei einem fremdsprachlichen Publikum Verständnis finden.

So beginnt die Aufführung mit einem Bild, das die westeuropäische Ikonographie aufgreift und verfremdet. Ein schöner nackter Mann sitzt im Herbstlaub, bestrahlt von einem Lichtkegel, der von oben kommt. Er blickt nachdenklich auf einen roten Apfel, der vor ihm liegt: die Versuchung Adams. Hinten öffnet sich eine Tür, ein gleißender Lichtbalken schneidet den Raum. Adam steht auf und rennt schreiend aus dem Paradies. Dann kommt er im Trenchcoat wieder auf die Bühne, und man merkt: Adam war Jago. Und wenn Othello erscheint, erkennt man: Sie sind Brüder. Jago (Sami Osman) ist Kain und Othello (Nedjo Osman) Abel. Den Zufall, daß die beiden Protagonisten von Pralipe Brüder sind, nutzt die Inszenierung für eine überraschende Konzeption: Jago ist das Alter ego Othellos, Jago ist der ältere, helle Intrigant, Othello der junge, dunkle Held. Als Jago Othello zum ersten Mal den Gedanken an Desdemonas Untreue eingibt mit der heuchlerischen Warnung: „Hüte dich vor Eifersucht“, rollen beide auf dem Boden: brüderliches Kräftemessen. Viel ist schon gerätselt worden über Jagos enge Bindung an seinen General. Was andere Inszenierungen durch Andeutungen über Jagos Homosexualität erreichten, wird hier durch die Familienähnlichkeit schon deutlich: Eifersucht und Liebe bestimmen die Beziehung zwischen diesen beiden Männern.

Der Apfel als Symbol der zerstörerischen Eifersucht wird auch später wieder ins Spiel gebracht. Jago gibt ihn Rodrigo, dem einfältigen Verehrer Desdemonas, und er gibt ihn Othello.

Wenn Jago seinem Bruder einflüstert, Cassio habe mit Desdemona geschlafen, setzt er ihm Schröpfköpfe auf den Rücken, und wie vergiftet von dieser falschen Therapie, bäumt sich Othello auf und mit ihm die ganze Bühne. Der schräge Boden wird steil wie ein Berg. Othello bricht nach seinem Anfall in der Höhe zusammen und rollt herab ins Laub. Dort gibt ihm Jago den giftigroten Apfel: ein Zeichen verräterischer Freundschaft. Othello selbst ist es, der das fatale Taschentuch fallen läßt, nicht Desdemona. In den Händen Jagos wird dieser sündenrote Stoff zur Schlange, die sich durch das Laub des Paradieses windet. Am Ende bereitet Desdemona sich ihr Bett aus Laub, Othello erstickt sie mit einem Kuß und häuft dann die welken Blätter über sie, so daß sie wieder in dem Blätterberg begraben ist, aus dem sie sich zu Anfang gemeinsam mit Othello im Hochzeitskleid herausgeschält hatte.

So versucht die Inszenierung immer wieder, einfache Bilder sprechen zu lassen, statt und neben Shakespeares bilderreicher Sprache, die übersetzt in Romanes das deutsche Publikum nur als Klang erreicht. Doch diesmal ist die Wirkung weniger eindringlich als bei Lorcas Bluthochzeit. Immer wieder muß mit äußerlichen Mitteln, melodramatischer Untermalung, Blackouts mit Musik, Zeitlupeneffekten, die Spannung aufrechterhalten werden.

Zudem sind viele Bilder allzu eindeutig. Nur im vierten Akt öffnet sich die Hinterbühne zu einem jener präzisen Rätselbilder, die Ciulli — nicht Regisseur der Inszenierung, aber der Schutzheilige der Roma- Truppe — so liebt: In diffusem Schwarzlicht stehen geöffnete Truhen herum. Desdemona und Emilia kramen darin nach dem Taschentuch, dem Zeichen der unwiederbringlich verlorenen Liebe Othellos.

Shakespeares Wortkulisse kann durch Bühnenbilder ersetzt werden.

Aber das Eifersuchtsdrama lebt von der Intrige, und die Intrige lebt vom Wort. Jago sagt, Cassio habe gesagt... Zu viele Szenen bleiben im statuarischen Wortwechsel stecken. Zwischen den Bildsymbolen braucht es Schauspieler, die differenzieren können. Doch noch beherrscht Rahim Burhans Truppe nur ein Register: die Ekstase. Die Inszenierung hat den Kampf um eine Theatersprache, die Shakespeares Wortzauber ebenbürtig wäre, noch nicht gewonnen.

William Shakespeare: Othello . Roma-Theater Pralipe/Theater an der Ruhr. Regie: Rahim Burhan. Bühne: Marina Cuturilo. Mit Nedio Osman, Sami Osman, Suncica Todic.

Weitere Aufführungen: Mülheim/Ruhr: Theater im Raffelbergpark, 17., 25., 26.12.; Düsseldorf Schauspielhaus (Großes Haus) 10., 11., 12.12.; Dortmund Schauspielhaus 14.12.