Friedensselig

Joachim Burkhardts „Potsdam“ in Stuttgart uraufgeführt  ■ Von Jürgen Berger

Elisabeth von Grunow ist verstört. Zu sein, was sie ist, fällt ihr schwer: eine junge Frau. Eine ihrer Freundinnen wurde von Russen vergewaltigt, deshalb ist sie so harsch und abweisend.

Daß die junge Frau allmählich aus ihrer Verstörung herausfindet, bringt ausgerechnet ein russischer Major zuwege. Der Major spielt Klavier, wie Elisabeth auch. In Schuberts Impromptu Opus 90 Nr.4 gibt es eine wunderschön elegische Passage, mit ihr weist sich der „Barbar“ als Kulturmensch aus. Am Ende spielt man vierhändig — eine Liebesgeschichte wird es trotzdem nicht.

Bettina Franke spielt die Elisabeth; mit einem undurchdringlichen Panzer hält sie sich das Leben vom Leibe. Wenn sie dann doch in die Gesellschaft der Überlebenden zurückfindet, plötzlich in einem Kleid aus ihrem Zimmer kommt und scheinbar all ihre Probleme beseitigt hat, wirkt das wie fauler Zauber in einem Stück, in dem gegen Ende die schlimmstglücklichen Wendungen überhand nehmen und das Personal zweigeteilt ist: Da gibt es Figuren wie Elisabeth, die auf der Bühne zu leben beginnen, während der russische Major mit aller Schauspielkunst gespielt werden kann und doch immer nur eine Funktion erfüllt: dafür zu sorgen, daß man sich am Ende gemeinsam an einen Tisch setzt — ein Friedensbote aus der Weite Russlands.

Potsdam heißt das Stück, das im „ehemals großzügigen Foyer einer Villa“ in Potsdam spielt und vom Kölner Journalisten und Autoren Joachim Burkhardt geschrieben wurde.

Es spielt im Jahr 1945 und umschreibt eine Stunde Null, die keine ist, da nationalsozialistische Biedermänner sich flugs in marktwirtschaftliche Zupackunternehmer und sozialistische Aufräumgenossen verwandeln, während Stalin, Churchill und Truman Deutschland aufteilen und den Kalten Krieg einläuten. Die „Potsdamer Konferenz“ findet nahe der Villa statt; in der Villa — und das ist die Stärke des Stücks — hat sich eine kleine Gesellschaft Flüchtender zusammengefunden, ein Mikrokosmos Deutschlands, auferstanden aus einer geteilten Ruine, mündend in geeinten Hedonismus. Essen- und Leben-Wollen ist die Parole, ausgegeben von Frau Hirth, der Gemahlin des Schuhmachers Hirth, der die marktwirtschaftliche Kurve am schnellsten kriegt. Die Russen wollen, daß er Schuhe macht, und bringen Lebensmittel. Da er zudem noch schauspielert, kocht und sächselt, kann Hans-Joachim Hegewald einen Entertainer spielen, der — anders als die Profis — nicht weiß, wie gut er die Leute unterhält.

Die Schustersgattin wiederum inszeniert Jürgen Bosse als Gegenfigur zum falschen Frieden, der mehr und mehr die Atmosphäre des Stücks bestimmt. Unter der biederen Oberfläche der Frau Hirth (Anke Hartwig) schimmert Bösartigkeit, und wenn sie „Deckel drauf“ brüllt, meint man, noch während des Stücks müßte es den Deckel vom Topf sprengen.

Hilde hingegen will vor allem eines: leben. Mitten im Krieg wurde sie Schauspielerin, jetzt spielt sie kleine Szenen im Foyer der Villa, zusammen mit dem Schuster: die feine Dame im Café — Berliner, Stuttgarter und Wiener Fassung. Gegen Ende, wenn die „Potsdamer Konferenz“ auf dem Programm steht, verwandelt sich Tatjana Clasing gar in einen phänomenalen Stalin...

Joachim Burckhardt hat Potsdam mit Figuren und Geschichten bevölkert und etwas geschaffen, was durchaus nicht selbstverständlich ist: ein Theaterstück, in dem die tragenden Figuren so viel Eigenleben entwickeln, daß die Zeitgeschichte nicht krampfhaft ins Wohnzimmer gezerrt wird. Jürgen Bosse hat seine Inszenierung überdies so angelegt, als befänden wir uns in einem von Tschechows Landhäusern: eine weite, holzgetäfelte Halle (Bühne: Wolf Münzer), die den Charakteren den Raum läßt, den sie für ihre Entwicklung benötigen. Aber allmählich nimmt dann doch die dem Stück innewohnende Friedenssehnsucht überhand. Am Ende wird selbst der eifrige Jungkommunist Hofmann von ihr ergriffen.

Toni Slama spielt den Kommunisten, ängstlich, unsicher und mit jungforscher Überheblichkeit. Er kommt schlecht weg, während die marktwirtschaftlichen Durchstarter des Stücks mit mehr Sympathie rechnen können. Der derzeitige gesamtdeutsche Trend dürfte damit getroffen sein. Schließlich jedoch entpuppt sich auch der Kommunist als guter Mensch — er verrät den jungen SS- Unterscharführer Franz doch nicht an die Russen.

Franz (Otto Salomon) übrigens gehört auch zur Fraktion der nicht allzu blutvollen Figuren, wird von Hilde angeschleppt, ist verletzt und hauptsächlich des Kontrastes wegen da. Und auch er ist ein guter Mensch. Der aus Deutschland geflohene Jude kommt als US-Leutnant zurück und sucht in der Villa nach den Spuren seines früheren Lebens. Daß ausgerechnet er den jungen SS-Unterscharführer am Ende in Sicherheit bringt, ist die schlimmste der glücklichen Wendungen, die der Autor von einer „genauen und realistischen Inszenierung der vorgeschriebenen Szenen“ (Bühnenanweisung) nachempfunden haben will und wogegen nichts einzuwenden wäre — hätte er sich nur nicht so seelengute Figuren erträumt. Wie sagt der Hauptmann zu Woyzeck: „Er ist ein guter Mensch — aber Woyzeck, Er hat keine Moral.“ Der gute Mensch Woyzeck mordet am Ende, Burkhardts gute Menschen veranstalten eine Friedensfeier.

Fast gewinnt man den Eindruck, als feierte Schauspieldirektor Bosse mit seinen Schauspielern auch schon ein wenig den Abschied von Stuttgart. Verdenken kann man es ihm nicht, denn in Stuttgart mochte man sich nie so recht mit Bosses zurückhaltend-kühlen und oft zu gefahrlosen Inszenierungen anfreunden. Jetzt geht er nach Essen, während man in der Schwabenmetropole auf neue, ungeheuerliche Bühnenabenteuer wartet, weiter emsig Häusle baut und den Stern kreisen läßt.

Joachim Burkhardt: Potsdam . Regie: Jürgen Bosse. Bühne: Wolf Münzner. Mit Bettina Franke, Helga Grimme, Hans-Joachim Hegewald, Tatjana Clasing, Toni Slama, Matthias Kniesbeck.

Staatstheater Stuttgart. Weitere Aufführungen: 5., 8. und 12.12.