Auch wenige Strahlen sind bereits tödlich

Berlin (taz) — „Wenn die Atomindustrie die Standards einhalten müßte, die für die amerikanische Chemieindustrie gelten, müßte sie ihre Anlagen schließen.“ Rosalie Bertell, Strahlen-Ärztin und Ordensschwester, ficht seit dreißig Jahren gegen die Verharmlosung radioaktiver Niedrigstrahlung. Bertells bestechende Argumentation: An giftigen chemischen Substanzen wie Dioxin dürfe nach amerikanischen Gesetzen von 100.000 Menschen maximal einer zusätzlich an Krebs sterben. Würde man die gleichen Standards für die Strahlenbelastung zugrunde legen, dürfte die Bevölkerung maximal einer jährlichen Dosis von 0,05 Millirem Strahlung ausgesetzt werden, so die Trägerin des Alternativen Nobelpreises. Das wäre ein Hundertstel der heutigen deutschen Grenzwerte.

Die streitbare kanadische Wissenschaftlerin traf sich in Berlin mit Vertretern von Strahlenopfern aus aller Welt. Im kommenden Herbst soll an der Spree die zweite Weltkonferenz der Strahlenopfer stattfinden. Sie soll von einem Komitee vorbereitet werden, dem Betroffene und AktivistInnen vom Atomtestgelände Semipalatinsk in Kasachstan, aus Japan, von den durch US-Atomtests verseuchten Inseln Polynesiens sowie vom Atomtestgelände im amerikanischen Nevada angehören. Die Konferenz soll „die erste fast globale“ werden, so der Genetiker und Kommissionsmitglied Sadao Ichikawa aus Japan. Bei dem ersten derartigen Treffen im Herbst 1987 in New York habe man noch auf Berichte von Opfern aus Osteuropa und der Sowjetunion verzichten müssen. Etwa 500 Strahlenopfer, Wissenschaftler und Aktivisten werden zur Konferenz 1992 erwartet.

Die Konferenz in Berlin will die maßlose Ignoranz gegenüber den Opfern der Atomkraft bekämpfen. Bertell nannte das neueste krasse Beispiel: In dem letzten Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zu den gesundheitlichen Folgen Tschernobyls seien nicht nur die 600.000 Menschen ausgeklammert worden, die zur Bekämpfung der Katastrophe eingesetzt wurden. Auch die Bevölkerung in den am höchsten belasteten Regionen habe man nicht untersucht.

Bertell berichtete zum Abschluß, daß im indischen Bundesstaat Kerbala an neuen Studien über die Gesundheitsgefahren durch Niedrigstrahlung gearbeitet werde. Durch radioaktive Thorium-Sände sei die „natürliche“ Hintergrundstrahlung dort gerade unterhalb oder kurz oberhalb der Grenzwerte, die in westlichen Ländern als zulässig gelten. Erste Ergebnisse zeigten für Kerbala eine Vervierfachung der Kinder mit Down-Syndrom und immer noch eine Verdoppelung angeborener Blindheit und Taubheit. Hermann-Josef Tenhagen