„Alles Quatsch“

■ Wenn linke Intellektuelle mit Linkspolitikern über die Perspektiven der Linken diskutieren/ Ein Wochenende am Rande des Dornröschenwaldes

Einst stand sie bei BMW vor dem Werkstor und versuchte, ihre Flugblätter an den Mann zu bringen, „daß da auch Frauen vorüberliefen, fiel mir gar nicht auf.“ Heute nennt sie sich Unternehmensberaterin — sie hilft BMW, ein Kinderbetreuungssystem aufzubauen. Dazwischen liegen in Gisela Anna Erlers Biographie rund zwanzig Jahre, in denen sie eins gelernt hat: „Der Sozialismus hat keine Theorie für die Reproduktion und keine für die Ökologie.“ Und so glaubt sie heute eher an die „Mixer“, diejenigen, die sich ihre Versatzstücke für emanzipatorische Politik zusammensuchen, wo immer sie sie finden.

Edelbert Richter, als Weimarer Pfarrer einst in der DDR-Opposition, kam über den Demokratischen Aufbruch zur SPD, für sie sitzt er heute im Europaparlament. „Aber da läßt sich ja keine Politik machen.“ Die macht er in dem „zusammengewürfelten Haufen“ der thüringischen SPD, zu deren Landesvorstand er gehört. Einer, den Richter nicht versteht, ist Hans-Christian Ströbele. Der ehemalige AL- und Bundesgrünensprecher will die Neue Linke, im Gefolge der 68er, für die „Stärkung der bürgerlichen Gesellschaft im Westen — gegen den Realsozialismus“ in Anspruch nehmen. Nein, da hat der Thüringer doch andere Eindrücke gesammelt: „Realpolitisch“ habe die Neue (West-)Linke doch diesen Realsozialismus stabilisiert.

Ansätze zu einem Ost-West-Dialog, am Wochenende in der Evangelischen Akademie Hofgeismar (am Rande des Dornröschenwaldes der Brüder Grimm, des Reinhardswaldes, bei Kassel gelegen). Vielleicht hat ja Wolfgang Thierse recht, der gegen das Auseinanderdriften der beiden Gesellschaften empfahl: „Wir müssen uns gegenseitig unsere Biographien erzählen.“ Jedenfalls wurden die, die gekommen waren, um über „Postsozialismus“ und die Linke zu debattieren, und ihre hundert Zuhörer immer dann lebendig, wenn es um eigene, persönliche Erfahrungen ging. Auch dann, wenn sie, dem eigenen Dementi zum Trotz, in der Rolle des Enfant terrible verharrten wie Thomas Ebermann, der es für eine „Beleidigung“ hielt, als Linker tolerant genannt zu werden, und es vorzog, Guillotine und Diktatur des Proletariats als linke Utensilien zu verteidigen. Ihm nahmen die kopfschüttelnden Zuhörer immerhin seine persönliche Tragik mitfühlend ab: „Ich bin politisch einsam“, resümierte der Ex-Grüne, „ich bewirke nichts — aber die anderen gestalten auch nichts.“ Die anderen — das waren Leute wie Tilman Fichter („vom SDS in die SPD- Baracke“), der gerade der westdeutschen Linken vorgeworfen hatte, die Wiedervereinigung nur „als narzistische Kränkung erlebt“ zu haben. Sie haben nur zuwenig Vertrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit.

Gestalten — aber wie? „Gibt es noch ein linkes Projekt oder nur noch einen lockeren postsozialistischen Traditionsverbund“, hatte Tagungsleiter Tilman Evers eingangs gefragt. Nun, die Fahne eines „linken Projekts“ wollte niemand hochhalten. Grünen- Sprecher Ludger Volmer wünschte sich vielmehr „radikalen Eklektizismus“ und Konzepte, die „utopisch genug und gleichzeitig konkret genug sind“. Überhaupt war mangels origineller Ideen viel vom Weg die Rede, der das Ziel ist, die Bremer Hochschullehrerin Michael von Freyholdt prägte die Formel: „Es gibt keinen zweiten und keinen dritten Weg mehr: Wir sind der Weg.“ — Höchstens zu einigen „unverzichtbaren“ Marksteinen auf diesem Pfad mochte man sich bekennen: Nichts Linkes geht ohne die soziale Frage, meinte Ingrid Kurz-Scherf, Ex-Staatssekretärin für Arbeit in Brandenburg, und die bestehe heute, gerade im Osten, in „Ausgrenzung und weniger in Ausbeutung“.

Doch für die meisten schien das Problem von neuer deutscher Spaltung doch nicht so dringlich zu sein. So beschäftigte man sich lieber mit alten Kontroversen („Wie groß sind die Spielräume der Linken?“) oder mit der richtigen, aber unfruchtbaren Feststellung, daß der Zusammenbruch des realen Sozialismus „kein Problem des Kapitalismus gelöst hat“. Neugierig machte da allein André Gunder Frank: „Kapitalismus, Sozialismus — alles Quatsch, gibt es gar nicht.“ „Wie das?“ wollten alle von dem greisen Vater der lateinamerikanischen Abhängigkeitstheorie wissen. Die Auflösung wurde zur Katharsis für die versammelte Linke: „Kapitalismus und Sozialismus sind ohnehin immer schon Teil desselben Weltwirtschaftssystems.“ Und in dessen Wettlauf könnten eben „nur wenige gewinnen“. So einfach ist das. Michael Rediske