EUROFACETTEN
: Staatsstreich

■ Ungeduld kann in Schweden nicht überzeugen

Das föderale Europa eines Herrn Kohl als Abschied vom überholten Nationalismus und Nationalstaatsdenken verkaufen zu wollen, während dieser gerade in Osteuropa Wiederauferstehung feiert — die schwedischen EG-Fans in Kanzleien und Redaktionsstuben versuchen es gar nicht erst. Auch wenn man dem Bremser John Major nicht uneingeschränkt folgen will, weil seine Haltung im Vorfeld von Maastricht vor allem als innenpolitische Winkelzüge gewertet wurde: Warum alles plötzlich so furchtbar schnell gehen muß, bleibt als deutliches Fragezeichen auch bei den BefürworterInnen einer auf eine politische Union zielenden Gemeinschaft stehen. Die Eile der Herren in Kanzleramt und Elysée ist nicht verständlich, allenfalls erklärbar: Paris, das Deutschland fest in einer Westallianz verankern will; Bonn, wo man nach in Stockholm weit verbreiteter Einschätzung zu glauben scheint, allein durch ein hohes Tempo alle ungelösten EG-Probleme schon irgendwie auf die Reihe zu bekommen. Ausspurten statt aussitzen also. Weder die französischen Sorgen noch die deutsche Ungeduld können im Norden überzeugen.

Stockholm ist — man sitzt ja noch gar nicht in Maastricht dabei, sondern hofft erst einmal, die Beitrittsverhandlungen im kommenden Jahr ins Laufen zu bringen — nicht nur vom eingeschlagenen Tempo überfordert, man hält es für falsch. Immer wieder formuliert wird die Furcht vor einem neuen „eisernen Vorhang“, jetzt von einer EG der Reichen herabgelassen.

Und überhaupt: der Osten Europas, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, Jugoslawien — drei Föderationen in Auflösung. Im Westen dagegen große Worte von Integration, einer Überwindung nationaler Grenzen, neuer föderaler Konstruktionen, vor der Wirklichkeit steigender rassistischer und nationalistischer Bestrebungen, die zum Teil eben auch auf eine weitverbreitete Sehnsucht nach Abgrenzung, Überschaubarkeit, Angst vor dem unbekannten Fremden vermuten lassen. Braucht Europa, so ein durchgängiger Gedanke in der schwedischen Diskussion, nicht mehr Zeit? Ist das, was sich gerade in Osteuropa abspielt, nicht gerade eine Warnung vor Siebenmeilenstiefeln und dem Versuch des künstlichen Zusammenschweißens ungleicher Teile? „Es muß doch zu denken geben, daß Integrationspläne geschmiedet werden und es gleichzeitig in Belgien, wo die EG-Zentrale sitzt, so in den nationalen Fugen kracht, und Wahlen solche Ergebnisse haben wie gerade jetzt“, zweifelt das durchaus EG-freundliche, konservative Stockholmer 'Svenska Dagbladet‘.

Das ist nicht nur der Ausdruck des nationalen Fröstelns eines kleinen und am europäischen Rand gelegenen Landes, neben seinen gesellschaftlichen Errungenschaften auch seine Identität im EG-Gemeinschaftsbrei zu verlieren. Reinhard Wolff