Wer trägt die Schuld am Untergang Europas?

■ Das Unabhängigkeitsstreben der Staaten Mittelosteuropas ist für die Schwierigkeiten der EG verantwortlich/ Sollten sich die Möchtegerne nicht ein Beispiel nehmen an der politischen Einigung Europas?

Die neuen Staaten Osteuropas müssen sich bei jedem ihrer politischen Schritte für eine Katastrophe globalen Ausmaßes, die sie damit auslösen, schuldig fühlen. Die baltischen Republiken wollen Selbständigkeit? Dann müssen sie die Schuld für den Fall Gorbatschows übernehmen, was eine Machtergreifung seitens der Reformgegner in der sowjetischen Führung zur Folge haben wird, was wiederum zu einer militärischen Intervention führen wird, die sich in einen atomaren Bürgerkrieg steigern kann. Aserbaidshan will Selbständigkeit? Das Gleichgewicht zwischen den christlichen und den islamischen Staaten wird ins Wanken geraten, was starke Spannungen in den erdölfördernden Gebieten auslösen wird, so daß unweigerlich ein Konflikt ausbricht, in dem wiederum früher oder später Atomwaffen zum Einsatz kommen. Slowenien will Selbständigkeit? Es kommt zu einem Bürgerkrieg in Jugoslawien, aus dem sich Europa nicht heraushalten können wird. Weil aber die Interessen ihrer Konstitutivstaaten so verschieden sind, wird dadurch das Projekt der europäischen Föderation unterminiert. Kroatien will anerkannt werden? Man wird ihm Kanonen verkaufen müssen, mit denen es dann womöglich zu schießen beabsichtigt. Undenkbar. Der kleinste Schritt, den der kleinste der europäischen Staaten unternimmt, dient nur dazu, eine Lawine auszulösen, die mit einem atomaren Weltkrieg enden wird.

Der Trick wirkt. Jeder Zug zur Selbständigkeit ist schon im voraus mit Schuld beladen. Die Diplomaten der kleinen Länder senken die Häupter vor ihren europäischen Gesprächspartnern. Was bleibt ihnen anderes, wo sie doch die Schuld für den Weltuntergang auf dem Buckel tragen.

Wären die Möchtegerne nicht besser beraten, sich an der politischen Einigung Europas ein Beispiel zu nehmen? Dem Balkaner erscheint die politische Strategie Europas als ein Bild des vollkommenen Chaos. Man weiß im voraus, daß, wenn Genscher in Bonn etwas über die Anerkennung der neuen Staaten verlauten läßt, Major in London bei der ersten Gelegenheit darauf aufmerksam machen wird, daß solche Aktionen gefährliche Präzedenzen für andere Erdteile nach sich ziehen. Worauf Mitterrand, mit dem Gesicht einer sich in ihrer Starrheit selbst denkenden Entität, beides in einer mysteriösen Formel, die alles bedeuten könnte, kombinieren und De Michelis in einer Reihe widersprüchlicher Aussagen allen dreien zustimmen wird. Soweit ist uns alles klar. Die EG-Politik ist wegen der verschiedenen strategischen Interessen Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs und Italiens stark gespalten. Wir haben tiefes Mitleid mit den Europäern und ihrem Schmerz über den Zerfall Jugoslawiens. Doch mußten wir dort leben, darum ist unser Schmerz nicht ganz so groß. In einer Rekordzeit haben uns die Europäer ihre politische Karte aufgerollt, alle Systemunterschiede erklärt und in Tagesordnungspunkten ihre Interessenprioritäten in Osteuropa dargelegt.

Aber der Balkan ist zwanzigmal kleiner als Europa. Wie ist es möglich, daß die hinterwäldlerischen Balkaner die Hauptbegriffe des europäischen Politjargons erlernen konnten, während die Europäer immer noch Grundtatsachen über den Balkan durcheinanderbringen?

Und wir haben uns so über die Amerikaner lustig gemacht, sie seien der Weltgendarm und mischten sich grob in Streitigkeiten ein, die sie nichts angingen. Man wird sich bei ihnen entschuldigen müssen. Sie wissen wenigstens, wie man sich einmischt. Es ist peinlich für den ganzen Kontinent, daß den einzigen intelligenten Satz ausgerechnet US-Außenminister James Baker in Moskau von sich gab: „Der serbischen Regierung und der jugoslawischen Bundesarmee will ich sagen, daß sie in dem, was sie tun, weder Würde noch Belohnung erwarten.“ Eine schöne Warnung, die in einem Satz die beiden wunden Punkte trifft. Den Amerikanern eilt es ja nicht, wo doch Europa sich so vordrängelte, selber die Sache zu regeln. Doch wenn die Zeit kommt, wird es keine Beute für Serbien und keine Orden für die Armee geben. Wer nur in aller Welt hat Baker verraten, daß Würde und Beute die zwei Angelpunkte der balkanischen Politik sind und daß der Krieg deswegen so grausam ist, weil die Armee mit ihm die verlorene Ehre wiedergewinnen und die serbische Regierung sich mit der Kriegsbeute an der Macht erhalten will? Wenn er selbst darauf gekommen ist, haben die USA einen klugen Außenminister.

Ervin Hladnik-Milharcic/

Ivo Standeker

Ivo Standeker ist Mitarbeiter der slowenischen Tageszeitung 'Mladina‘.