Vom Nachttisch geräumt: Selbstmitleid eines Herrenmenschen

Carl Schmitts Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951 sind eine schwer zu ertragende Lektüre. Vor allem eines widert mich an: Der Meister des kalten Blicks auf die Welt, wie sie ist — so sehen seine Anhänger und viele seiner Gegner ihn heute noch —, verschließt die Augen vor dem Ungeheuerlichen, das er in die Welt hinausposaunt hat, und sieht alles, was ihm als schwaches Echo widerfährt, als niedrige Heimtücke, als „Unrecht“. Es gibt keine Zeile, in der er darüber sinniert, wie gut er davonkommt. Wieviel schlechter es denen erging, die nach der Blutnacht nicht erklärten: „Der Führer schützt das Recht.“

Statt dessen: „Aber mir geschieht immer nur Unrecht; ich bin hors la loi und vogelfrei.“ Keines seiner Opfer ist ihm an den Kragen gegangen. Jahrzehntelang saß er in Plettenberg, genoß Rente und Anerkennung. Nur seinen Lehrstuhl bekam er nicht wieder. Darüber ein Lamento, als wäre er Hiob und Jonas in Personalunion: „So stehe ich da, geburthaft nackt und bloß, sehend und fühlend, daß das Sein meine ganze Habe ist.“ Abgesehen von einem Haus, einer Pension, einer Gattin, Freunden und einem Bankkonto. Wüßte man nicht, was andern anzutun er bereit gewesen war, er wäre nur lächerlich. So aber erschwert das Lamento die Lektüre.

Schade. Denn natürlich steckt wie in all seinen Notizen auch hier eine Menge drin. Wieder gibt es Hinweise auf entlegene Texte, denen man sicher mit Gewinn nachgehen wird: zum Beispiel Peter F. Drucker, The end of economic man — the origins of totalitarianism, erschienen 1939 in New York, oder auch die energischen Hinweise auf den jungen Bruno Bauer und dessen Blick auf Gott und die Welt. Ein wichtiger Fingerzeig, gerade wenn man sich daran erinnert, ihn 1967 bis 1969 auch von Adorno immer wieder bekommen zu haben.

Daneben die Auseinandersetzung mit den ständigen Begleitern: Hobbes, Jünger, Donoso Cortés und tutti quanti. Ab und an rätselhafte Bemerkungen, die den Pulsschlag des Lesers erheblich beschleunigen: „Ist diese Rückkehr zum eigenen Körper ... eine zeithafte Strömung, an der ich teilnehme? ...ich liebkose mich, ich streichele mich ist komisch und albern; ich kann mich töten, das ist die einzig wesentliche, leibliche Ich- mich-Beziehung... Was hat das aber mit Bürgerkrieg zu tun?“ Das wirklich Fesselnde an dieser Stelle ist nicht das Gedankenspiel mit dem Selbstmord, sondern die Assoziation zur Onanie und deren Verächtlichmachung. Dem Sexuellen bei Schmitt nachzugehen hätte seinen Reiz. Zum Beispiel sein rührendes Mißverständnis Nietzsches: „,Alle Lust will Ewigkeit.‘ So? Die Lust will nichts. Sie ist totale Gegenwart und kennt und weiß und will nichts anderes.“ Wenn die Gegenwart total ist, ist sie ewig. Denn dann gibt es nichts mehr außer ihr. Genau das hat Nietzsche gemeint. Schmitt denkt bei Ewigkeit an Himmel und Gott. Man könnte Mitleid mit dem scharfen Hirn haben, das am Offensichtlichsten scheitert, wenn man nicht wüßte, daß solche Stellen als Fenster betrachtet werden müssen, durch die man den Autoren in den Kopf schauen kann. Vielleicht macht sich mal jemand die Arbeit und uns Lesern das Vergnügen.

Schade, daß die wenigen, nicht gerade erhellenden Anmerkungen des Herausgebers dabei kaum eine Hilfe sein werden.

Carl Schmitt: Glossarium — Aufzeichnungen der Jahre 1947- 1951. Hrsg. von Eberhard Freiherr von Medem, Duncker & Humblot, 364 S., 78 DM