Neue Schreckgespenster müssen her

■ betr.: Flucht vor Algeriens "großer stummer Kraft", taz vom 28.11.91

Flucht vor Algeriens „großer stummer Kraft“,

taz vom 28.11.91

Einen so aufreißerischer und oberflächlichen Artikel, dachte ich, könnte ich nur in irgendeiner Boulevardzeitung lesen! Die Russen sind out, neue Schreckgespenster müssen her: Islam und Islamisten.

Dem Artikel zufolge muß sich Europa auf einen weiteren Strom algerischer Intellektueller gefaßt machen, die vor der FIS fliehen wollen. Zeichen dafür sieht Fahrni in der „Länge der Schlangen“ vor den westlichen Konsulaten. Fahrni müßte doch wissen, daß Schlangen seit Jahren zum gewöhnlichen Bild der Landschaft in der algerischen Hauptstadt geworden sind. Nicht die Islamisten, sondern schlicht und einfach die soziale Misere drängt die Algerier ins Exil, übrigens auch nach Lybien, Saudi- Arabien oder in die Emirate.

Im letzten Oktober konnte man sehen, wie das US-Konsulat von unzähligen Auswanderungswilligen „belagert“ wurde, und das noch bevor die USA offziell angekündigt hatten, ihre Tore auch für algerische Auswanderer aufzumachen. Darunter waren ebenfalls zahlreiche an ihrer Kleidung erkennbare „Islamisten“. Fahrni, der in Frankreich wohnt, hat dies bestimmt im französischen Fensehen mitverfolgt, zumal die Kommentatoren der „Grande Nation“ über diese „Algerier und FIS-Anhänger“ ironisierten, die während des Golfkrieges die US- Botschaft beinahe verbrannt hatten und jetzt doch noch zum US-Satan auswandern wollen! Fahrni war in seinem einseitigen Beitrag wohl auch auf Angsterzeugung eingestellt: Wieso erwähnt er die „Viertelmillion“ — 250.000 klingt vielleicht geringer — Menschen, die „für den islamischen Staat und die Scharia demonstrierten“ und verschweigt gleichzeitig, daß in demselben Monat eine andere Demonstration mit 300.000 bis 500.000 Menschen — eine halbe Million, würde Fahrni sagen — für die Demokratie von der berberisch-laizistisch orientierten RCD-Partei organisiert wurde? Stimuliert wohl weniger die Feindbilder-Drüse? Der Autor pauschalisiert und setzt die „Islamisten“ mit der „FIS“ gleich: „Dennoch scheiterte der Versuch von Staatspräsident Chadli“, schreibt Fahrni, „den Islamisten eine gemäßigte Führung aufzuzwingen. Die FIS-internen Debatten sind rüde, führten bisher aber nicht zur Spaltung.“ Es ist nicht nur ein tiefgreifender, sondern auch ein grober Einschätzungsfehler, das Phänomen Islamismus auf das Spektakuläre, Extremistische, Intolerante, Fanatische oder Gewalttätige zu reduzieren. Das islamistische Lager in Algerien besteht aus mindestens zehn Parteien und religiösen Vereinigungen, die zwar alle — wie die FIS — eine islamische Republik fordern, sich jedoch im Hinblick auf die dafür einzusetzenden Methoden stark voneinander unterscheiden.

Zwischen einem Nahnah von der HAMAS-Partei und einem Ben Hadsch der FIS oder gar der extrem militanten Gruppe der „Hidjra wa Takfir“ liegen Welten. Inhaltlich stimmt diese zitierte Passage übrigens auch nicht. Die FIS selbst ist eine Abspaltung der islamischen Daawa-Liga des Greisen Sahnoun, einer islamischen Gruppierung, deren wichtigste Mitglieder (Madani, Nahnah, Djaballah), heute uneins, alle eigene Parteien gegründet haben. Gerade die FIS bezichtigt zum Beispiel die HAMAS-Partei (Nahnah) eine „künstliche Gründung des Staates“ zu sein, die geschaffen worden ist, um mit der FIS zu konkurrieren. Daß die islamistische Bewegung nicht homogen ist, zeigen auch die Reaktionen zu den bevorstehenden Wahlen: Während die Teilnahme der FIS noch offen ist, rufen die anderen wichtigen islamistischen Parteien wie HAMAS oder NAHDA zur massiven Beteiligung auf. Fahrni widerspricht sich selbst, wenn er schreibt: „gleichzeitig widerstehen die Islamisten [sprich: FIS] der Versuchung, den gewaltsamen Sturz des Regimes zu suchen.“ Wenn die FIS-Führung hinter Gittern sitzt, dann eben weil sie zum Djihad gegen den „frevelhaften Staat“ aufgerufen hat. Daß Madani, aus dem Schatten seiner Zelle heraus, die [islamistische] Bewegung“ eben nicht „fest in der Hand“ hat, beweisen nicht zuletzt die bewaffneten Angriffe in Guemar (El- Oued) auf den algerischen Grenzschutz (drei Tote, 1 Verletzter) am 29.11.1991 und Schüsse auf Polizisten in Kouba (Algier). Jeder kennt heute die Islamische Heilsfront (FIS). Wer kennt aber die RCD, FFS, PSD oder PRA? Zufall oder Angstmacherei? Die FIS, eine „große stumme Kraft“? Sie hat es jedenfalls geschafft, bislang die Aufmerksamkeit der westlichen Medien allein auf sich zu ziehen. Will Fahrni seine LeserInnen informieren oder ihre Erwartungen (Vorurteile) bestätigen? Ach, noch eins: die Wahlen finden am 26.12. und nicht am 27. 12., wie Fahrni behauptet, statt, „aber das ist irrelevant“, würde Souhila, Freundin und Heldin in Fahrnis Geschichte sagen: „In Marseille muß ich ja nicht wählen“. Mohamed Tilmatine,

Algier/Berlin