Demirel verblüfft die türkische Linke

Der türkische Premier schließt das berüchtigte Gefängnis Eskisehir und stoppt den Bau eines umstrittenen Kohlekraftwerkes/ Gesetzentwurf gegen Folter/ Doch die kurdischen Provinzen sind von der Demokratisierung ausgenommen  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Es ist gerade drei Tage her, daß das türkische Parlament der neuen Koalitionsregierung unter Süleyman Demirel das Vertrauen ausgesprochen hat. „Das Volk ist voller Hoffnung“, titelte die Tageszeitung 'Sabah‘ unter Berufung auf eine repräsentative Meinungsumfrage nach dem Vertrauensvotum. 56 Prozent der Türken glauben an den Erfolg Demirels.

„Die Menschen auf der Straße lachen wieder“, merkte ein Kollege zum Amtsantritt der neuen Regierung an. Selten haben die Kolumnisten einer neuen Regierung so viel Lob im voraus ausgesprochen. In der Tat sind die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen der konservativen „Partei des rechten Weges“ und der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ beeindruckend. Die Partner haben sich am 15. November über ein „Demokratisierungspaket“ geeinigt, am 19. November wurde das Koalitionsprotokoll unterzeichnet und am 25. November das Regierungsprogramm verlesen. Die Koalitionsvereinbarungen wie das Regierungsprogramm versprechen grundlegende Reformen zur Demokratisierung der Gesellschaft. „Unsere Gesellschaft hat 30 Jahre im Bürgerkrieg gelebt. Alle zehn Jahre ein Putsch. Hunderttausende wurden gefoltert, in Gefängnisse geschickt. Nun beginnt die Zeit der sozialen Kompromisse, des gesellschaftlichen Friedens“, erklärte mir ein linksradikaler Freund, der fast zwei Jahrzehnte im Gefängnis verbrachte.

Der konservative Demirel, als Premier in den siebziger Jahren zum Todfeind der Linken gekürt, versetzt seine einstigen Gegner in freudiges Erstaunen. Ungewohnte Töne schlägt Premier Demirel an: „Die Menschen dieses Landes brauchen zuerst Freiheit, Gerechtigkeit. Sie müssen die Angst abschütteln. Die Menschen dieses Landes verdienen es, glücklich zu sein.“

Den Worten folgten beeindruckende Taten. Das berüchtigte Gefängnis Eskisehir, Symbol für den staatlichen Terror und für Widerstand in Form von zahlreichen Hungerstreiks, wurde per Kabinettsbeschluß geschlossen. Die politischen Gefangenen, unter ihnen viele Angehörige der kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), hatten mit einem Hungerstreik gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen in den Hochsicherheitstrakten protestiert. In einer Blitzaktion besuchten der neue Justizminister Seyfi Oktay und der Minister für Menschenrechtsfragen, Mehmet Kahraman, das Gefängnis, um mit den hungerstreikenden Gefangenen zu sprechen. Auf der nächsten Kabinettssitzung erging dann der Beschluß, das Gefängnis zu schließen. Die Umwandlung des Gefängnisses in ein „Museum für Folter“ ist im Gespräch.

Eine Ära, der die Militärs, die 1980 putschten und Demirel aus dem Amt jagten, ihren Stempel aufgedrückt haben, wird mit der Koalitionsregierung Demirel beendet. 1983 verbrachte Demirel 122 Tage in Zwangshaft in der Militäranlage Zincirbozan. Jetzt will man dort ein Denkmal der Demokratie errichten.

„Gläserne Polizeiwachen“ versprach Demirel im Wahlkampf. Ein Wink auf die gängige Folter während der Vernehmungen auf türkischen Polizeiwachen. An der Ernsthaftigkeit der Regierung, gegen die Folter vorzugehen, kann man zur Zeit nicht zweifeln. Ein Gesetz, wonach Rechtsanwälte während der polizeilichen Vernehmung ihre Mandanten besuchen können, und das Recht auf Aussageverweigerung gegenüber der Polizei ist in Vorbereitung. „Eine Revolution im türkischen Rechtssystem“, lobte der Präsident der Anwaltskammer in Ankara, Özdemir Özok.

Menschenrechte und Demokratie sind zu Lieblingsbegriffen des geläuterten Demirel geworden. „Glaubt nicht denjenigen, die sagen, Folter sei ein Gerede, das die Linken erfunden haben. In der Türkei wurde gefoltert“, bekannte Demirel freimütig vor seiner Fraktion. „Ohne dieses Problem zu lösen, kann die Türkei nicht vor Europa treten. Ohne dieses Problem zu lösen, kann sie die Blutung im Gewissen der Nation nicht beenden.“

Demirels neuer Außenminister Hikmet Cetin, ein Sozialdemokrat, verkündete anläßlich der Außenministertagung des Europarates in Straßburg den künftigen EG-Partnern die neue Linie: „Wir werden die Folter in die Tiefen der Geschichte begraben.“

Demirel hat ein Gespür dafür, blitzartig Entscheidungen zu treffen, um gesellschaftspolitische Konflikte beizulegen. Bürgerinitiativen und Grüne wehrten sich seit Jahren gegen den Bau eines Kohlekraftwerkes in der idyllischen Bucht Gökova am Mittelmeer. Die Bauarbeiten waren in vollem Gang. Zwei Tage nach Verlesung des Regierungsprogramms ließ Demirel die Bauarbeiten stoppen. „Dort ein Kohlekraftwerk zu errichten war ein Fehler“, sagte Demirel. Die Zeitungen feierten ihn als Ökologen. Der Premier verwirrte selbst die kleine Gemeinde der türkischen Grünen. „Wir sind bereit, dieser Regierung, die den Pluralismus verteidigt, mit Informationen zur Seite zu stehen“, erläuterte der Vorsitzende der Grünen, Aydin Ayaz.

Entscheidender Teil der Koalitionsvereinbarungen sind geplante liberale Gesetzesreformen. Die Verfassung, das Parteiengesetz, das Gesetz über Gewerkschaften, das Streikgesetz sowie mehrere repressive Strafgesetze sind Erblast der Militärdiktatur. Die antidemokratischen Paragraphen sollen demnächst ausgemerzt werden. Während die Gesetzesreformen mit der absoluten Mehrheit der Koalitionspartner verabschiedet werden können, benötigt man eine Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen. Doch die Regierung kann sich breiter Unterstützung für eine Verfassungsreform sicher sein. Der Präsident des türkischen Verfassungsgerichtes sprach erst gestern davon, daß die bestehende Verfassung „rechtswidrig“ sei: „Da gibt es Gesetze, die mit Recht nichts zu tun haben und trotzdem von der Verfassung gedeckt werden. Also muß man die Verfassung, die selbst rechtswidrig ist, verändern.“ Die Regierung will auch den Übergangsparagraphen 15 der Verfassung aufheben. Der Paragraph — ein juristisches Unding — besagt, daß die Putschisten rechtlich nicht für ihre Taten während der Militärdiktatur belangt werden dürfen.

Doch von dem Frühling der Demokratisierung sind die kurdischen Provinzen vorerst ausgenommen. Bislang sind keine Zeichen erkennbar, daß sich die Staatspolitik ändern wird. „Die Türkei ist ein Einheitsstaat mit unverletzlichen Grenzen“, heißt es eindeutig in der Koalitionsvereinbarung. Von einer Autonomie will niemand in der Regierung etwas wissen. Nach wie vor wird die kurdische Frage nicht als politisches Problem angegangen, sondern als ein „Sicherheitsproblem“. Die Bekämpfung der Arbeiterpartei Kurdistans, die einen bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Kurdistan führt, ist nach wie vor Leitlinie der staatlichen Politik.