Wenn sich in Bonn die Balken biegen

Kanzler Kohls Geheimdienstaufseher Lutz Stavenhagen stolperte über die falschen Pässe für den ehemaligen Stasi-Oberst Schalck-Golodkowski und falsche Mähdrescher für Israels Mossad  ■ Aus Bonn Thomas Scheuer

Für einen Aufseher über die bundesdeutsche Aufklärer-Zunft gab sich der Mann auffallend unwissend: Im März 1990 entging Lutz Stavenhagen, Staatsminister im Kanzleramt und dortselbst zuständig für die Koordination und Beaufsichtigung der bundesdeutschen Geheimdienste, daß der Bundesnachrichtendienst (BND) den früheren DDR-Devisenagenten Schalck-Golodkowski mit falschen Pässen ausgestattet hatte. Auch als die Pullacher Truppe kürzlich mit dem Ansinnen auflief, Kriegsgerät der abgewickelten NVA, auf den Frachtpapieren routinemäßig als Pflugscharen deklariert, nach Israel zu verschieben, hatte Minister Stavenhagen wieder mal von nichts gewußt. Kanzler Kohl hat seinen Minister fürs Geheime gestern termingerecht abserviert: Am heutigen Mittwoch muß Stavenhagen wegen des Israel-Deals im Verteidigungsausschuß, am Donnerstag wegen der Schalck-Pässe im Schalck- Untersuchungsausschuß antreten.

Dabei hat sich Stavenhagen zumindest in der Schalck-Affäre das Leben unnötig schwer gemacht. Er hätte am 13. März 1990 auf eine Anfrage des SPD-Bundestagsabgeordneten Peter Conradi einfach nur die Wahrheit zu sagen brauchen. Der Sozi hatte wissen wollen, ob der frühere DDR-Devisenagent Alexander Schalck-Golodkowski nach seiner Flucht in den Westen vom Bundesnachrichtendienst (BND) Hilfe erhalten habe, „beispielsweise durch die Ausstellung eines Reisepasses“. Stavenhagen hätte antworten können: Weil die Sicherheitsexperten des Pullacher Dienstes um Leib und Leben des übergelaufenen SED- Goldfingers fürchteten, hätten sie, um seine wahre Identität zu verschleiern, ihm vorübergehend Decknamen-Papiere verschafft. Das hätte dem Kanzleramt zwar Oppositions- und Presseschelte eingetragen; die Sache aber wäre mittlerweile längst abgehakt. Doch der Minister versicherte dem Parlamentarier ausdrücklich, „daß Herrn Schalck-Golodkowski Hilfe in der von Ihnen geschilderten Art weder angeboten noch geleistet wurde“. Das Gegenteil aber war der Fall: „Big Alex“ und seine Ehefrau Sigrid waren in jenen Tagen stolze Inhaber bundesdeutscher Pässe und Führerscheine, ausgestellt auf den Namen Gutmann, den Mädchennamen von Frau Schalck, beschafft vom BND. Publik wurde die Paß-Geschichte erst durch den Schalck-Untersuchungsausschuß. Prompt warfen Oppositionsabgeordnete dem Minister vor, das Parlament belogen zu haben.

Lutz Stavenhagen gibt den Schwarzen Peter nach Pullach weiter: Der damalige BND-Chef Hans- Georg Wieck habe ihn falsch informiert. Er habe erst am 28. März 1990, so beteuerte Stavenhagen mehrfach (etwa per Pressemitteilung der Bundesregierung Nr. 355/91 sowie in Rundfunkinterviews) „von der Ausstellung von Decknamen-Papieren für Schalck-Golodkowski Kenntnis erhalten“. Die Causa Schalck war im Februar/März 1990 ohne Zweifel Chefsache. Kaum glaubhaft, daß Stavenhagen die Paßfrage nicht explizit angesprochen haben soll. Und wenn er es tatsächlich nicht hat, fragten die Kritiker, ist dieser Politiker dann als Geheimdienst- Kontrolleur tragbar?

Am 28. März 1990 also meldete Spürnasen-Häuptling Wieck förmlich, daß Schalck einen „auf einen Decknamen ausgestellten Reisepaß“ bekommen habe. Da hätte Stavenhagen seine falsche Antwort an Conradi noch korrigieren können. Hat er aber nicht. Diesen Wieck-Bericht hatten die Bundesminister Schäuble und Genscher in Pullach bestellt. Die beiden hatte eine Frage des Kollegen Möllemann in der Sitzung des Kabinetts am 20.3.90 aufgeschreckt, ob Schalck etwa kompromittierende Kenntnisse über westdeutsche Politiker in petto habe. Dazu Wieck knapp: Das Ehepaar Schalck/Gutmann fühle sich „in gewisser Weise verraten“ und plane daher „gezielt und dosiert auf die Presse zuzugehen“. Eine Kopie ging an BND-Aufseher Stavenhagen — angeblich bekam der sie nie zu Gesicht.

Das behauptet jedenfalls der Kanzleramtsbeamte Hermann Jung. Wie der pensionsreife Ministerialdirigent Anfang dieses Monats geduckt in den Ausschuß schlich, ließ ahnen, wie in Bonner Regierungsbüros gebuckelt wird. Das BND-Papier vom 28.3.90 ging nie über seinen Schreibtisch, gab Jung zu Protokoll; es sei nicht mehr aufzutreiben. Letzte Woche korrigierte er in einem Brief an den Ausschußvorsitzenden Horst Eylmann (CDU) diese Aussage urplötzlich. Er müsse „zu meinem lebhaften Bedauern“ eingestehen, daß ihm das besagte Papier seinerzeit doch vorgelegt wurde. Er habe es aber ungelesen im Panzerschrank abgelegt. Also könne es auch sein Chef Stavenhagen nicht gelesen haben. So hat sich der einfache Bürger schon immer den peniblen Bonner Bürokraten samt Panzerschrank vorgestellt: Berichte des Geheimdienstchefs werden achtlos in den Tresor geknallt. In dem sieht's aus wie bei Hempels unterm Sofa. Eineinhalb Jahre braucht es, um zwischen Kohl und Rüben ein solch brisantes Papier aufzustöbern. Was wohl als Rettungsmanöver für Jungs Chef gedacht war, ließ die Paß-Affäre vollends zur Posse geraten. Ausschußmitglied Ingrid Köppe (Bündnis 90/Grüne) äußerte denn auch sofort den Verdacht, „daß im Kanzleramt gelogen wird, daß sich die Balken biegen“. Der „Märchen“ aus dem Kanzleramt überdrüssig, forderte die Abgeordnete Stavenhagens Rücktritt.