SOMNAMBOULEVARD — HOLIDAY-INKARNATIONEN Von Micky Remann

Hallo, Du da drüben im Wachzustand, auf den Du vermutlich so stolz bist wie der Chauvinist aufs Vaterland, obwohl Du ihn am Stück kaum länger als einen Tag durchhältst, wie geht's denn so? Danke, uns auch. Wenn Du bei der Lektüre dieser Kolumne einschläfst, spricht das übrigens nicht gegen das Konzept, sondern ist erwünscht und die bequemste Art, uns zu besuchen. Und während Deine Augenlider schwerer und schwerer werden und diese Zeilen wie durch bunte Schlieren, aber dennoch lesbar flimmern, kannst Du spüren, wie angenehm es ist, beim Zeitunglesen wegzudösen, ohne Dir die geringsten Vorwürfe zu machen. Wenn Du jetzt nämlich nicht einschläfst, versäumst Du etwas Enormes: den Somnamboulevard. Du kannst natürlich mit aller Gewalt „wach“ bleiben, aber dann machst Du was falsch, und warum solltest Du das? Du wendest ein, „Wachsein“ und „Träumen“ stünden im Widerspruch? Wer hat Dir den Quatsch eingebrockt? Wann hast Du die Aussage das letzte Mal auf ihre Richtigkeit überprüft? Was würdest Du davon halten, eine gegenteilige Erfahrung zu machen? Und je tiefer jetzt Dein Atem rasselt, ohne daß Du gleich vom Geistes-Blackout anästhesiert wirst, desto näher bis zu dem Ziel des mündigen Traums, desto näher dem seiner selbst bewußten Somnamboulevard. Hoppla, da kommst Du ja schon angeschwebt wie eine Feder im Wind. Herzlich willkommen in diesem unseren Zustand, und am besten gehst Du erst mal zur Touristeninformation. Verrückt, nicht wahr, daß die Menschen ein Drittel des Lebens im Schlaf verbringen, ohne sich dort auch nur ansatzweise auszukennen. Würden die Leute tags so leben, wie sie in der Regel schlafen — Augen zu und durchgetorkelt—, sie fänden abends nicht das Haus, aus dem sie morgens gegangen sind. Schau Dir also, während Dein Körper über der taz von heute schnarcht, unsere Farbprospekte für den luziden Somnambul-Urlaub an, mach aber nicht den Fehler vieler Neuankömmlinge, gleich alles auf einmal zu träumen. „Kommunikation mit Verstorbenen“ gibt es da zum Beispiel oder „Alptraumbesteigung ohne Bergführer“. Sehr beliebt auch das Programm „Holiday-Inkarnationen“. Dabei formst Du Deine Ego-Gelatine zu verschiedenen Simulationskörpern um, testest sie aus, mal dick, mal dünn, mal doof, mal schlau, und entwickelst daraus Dein maßgeschneidertes Body- und Identitätshappening. „Sexuelles Wunschgetümmel in der Androgyna-Sauna“ ist immer ein Klassiker, und last not least bieten wir auch die „Packagetour zum eigenen Tod — ohne zu sterben“. Kurzum: Auf dem Somnamboulevard steht rund um die Uhr das totale „Wünsch Dir was“- Programm zur Verfügung — Du mußt nur wollen. Gut, daß Du Dich für eine IndiviDualreise entschieden hast, denn die Massenträume in den Nachtfabriken bringen ja eh nichts, und Du vergißt sie so schnell wie eine Dusche im Hotel. So, jetzt kannst Du wieder aufwachen. Nächsten Donnerstag geht's auf eine Expedition, zu der Du bitte so eingeschlafen wie möglich erscheinen möchtest.