Ohne Wut kann man nichts machen

■ Ein Gespräch mit Ken Loach, Regisseur von „Riff-Raff“ und Gewinner des Europäischen Filmpreises '91

Einfache Leute sind seine Spezialität — der britische Regisseur Ken Loach hat schon in den sechziger Jahren Filme über die gedreht, die als Helden sonst nicht taugen: Arbeiter, Familienmütter, die sogenannten sozial Schwächeren. Aus seinem fast altmodisch anmutenden klassenkämpferischen Selbstverständnis als Filmregisseur macht er auch heute noch keinen Hehl. Als ihm am Sonntag abend für „Riff-Raff“ der Europäische Filmpreis verliehen wurde, sprach er auf der anschließenden Pressekonferenz hauptsächlich über — den Dialekt. Das, was man im Ausland für Englisch halte, sei das Englisch der Herrscherklasse. In seinem Film sprechen die Leute das Englisch der normalen Leute: Dialekte. Was das Problem der Synchronisation nach sich zieht; „Riff-Raff“ läuft in den USA mit Untertiteln. „Sprache ist fundamental. Wenn man sie wegnimmt, nimmt man den Leuten ihre Geschichte, einen Teil ihres Charakters, einen Teil der Welt, in der sie leben.“ Eine der vielen Funktionen vom Film sei es, der Verschiedenheit von Kulturen Respekt zu verschaffen. „Gleichzeitig kann man den Leuten in verschiedenen Ländern aber zeigen, was sie gemeinsam haben.“ Eine subversive Qualität von Kino: „Die britische Regierung will den Leuten klarmachen: Nur die Briten streiken.“ Filme könnten zeigen, daß auch die Franzosen so etwas tun oder die Deutschen. In Großbritannien startete „Riff-Raff“ im Sommer mit lediglich drei Kopien. Trotz einer hohen Besucherzahl ging der Film deshalb unter. In der Bundesrepublik kommt Loachs Film am 9. Januar in die Kinos.chp

taz: Seit drei Jahren werde ich jeden Morgen vom Lärm einer Kreissäge geweckt. Habne Sie je neben einer Baustelle gewohnt oder als Bauarbeiter gearbeitet?

Ken Loach: Wahrscheinlich wohnt man immer neben einer Baustelle, wenn man in der Großstadt lebt. Ich selbst habe nie als Bauarbeiter gearbeitet. Als ich Bill Jesse kennenlernte, der das Drehbuch zu „Riff- Raff“ geschrieben hat, arbeitete er gerade auf dem Bau. Wir sind dann zusammen auf Baustellen gegangen und haben mit Arbeitern gesprochen. Das war der Ausgangspunkt des Films. Aber eigentlich habe ich mich schon immer für alles interessiert, was mit Arbeit zusammenhängt. Die Kraft, die von einer kollektiven Arbeit ausgeht, und die Solidarität unter den Arbeitern faszinieren mich. Ich habe in den Docks gefilmt und Filme über Bergarbeiter gemacht. Ich bin an das Thema jedoch nie wie ein Anthropologe herangegangen.

Die Filmfiguren in „Riff-Raff“ wirken authentisch. Manchmal hat man den Eindruck, Sie würden mit Laien und ohne Drehbuch arbeiten.

Ich möchte Menschen so darstellen, wie sie sind. Wie in einer Dokumentation. Wenn mir das glückt, könnte man eine Szene aus meinem Film nehmen und sie in einen Dokumentarfilm montieren. Man würde beim Betrachten keinen Unterschied sehen. Die Schauspieler, die ich für „Riff Raff“ gefunden habe, waren hervorragend. Ich mußte sie nur dazu bringen, daß sie vor der Kamera sie selbst sind. Wir haben „Riff- Raff“ in einzelnen Sequenzen gedreht. Es gab ein Drehbuch, aber wir haben den Schauspielern immer nur zwei oder drei Szenen zum Lesen gegeben. Sie wußten also nicht, was als nächstes passieren oder wie der Film enden würde — wie im „richtigen“ Leben.

Während der Drehzeit haben Sie die Schauspieler mit Einfällen überrascht, die nicht im Drehbuch standen. Zum Beispiel die Friedhofsszene, in der Stevie mit seiner Familie die Asche der toten Mutter verstreut...

Ich wollte, daß die Friedhofsszene lebendig wirkt. Also habe ich den Schauspielern erzählt, in der Urne sei die Asche von einem „richtigen“ Toten, die uns das Krematorium zur Verfügung gestellt hätte. Deshalb könnten wir die Szene nur ein- oder zweimal drehen. Alle haben betretene Gesichter gemacht und die Sache sehr ernst genommen.

In der Mittagspause haben wir heimlich eine Windmaschine aufgebaut. Da die Maschine sehr groß und schrecklich laut war, waren alle gewarnt und ahnten, daß es etwas mit der Szene zu tun haben würde. Trotzdem waren die Schauspieler entsetzt, als ihnen die Asche auf Kleidung und Hände rieselte. Sie dachten, es wäre eine echte Leiche. Wenn man sich an ein festes Drehbuch halten muß, ist für Späße dieser Art kein Platz.

Im Zusammenhang mit „Riff- Raff“ fällt immer wieder der Begriff „englischer Humor“. Was ist für Sie das Spezifische an dieser Art von Humor?

Das weiß ich nicht, diese Frage könnten Sie sicher besser beantworten. Ich glaube, der englische Humor ist eine Art Galgenhumor. Es gibt bei uns viele Witze, die etwas mit Armut und der Mühsal des Lebens zu tun haben. Es gibt zum Beispiel den Ausspruch: „Don't take the curtains down, we haven't read them yet“.

Der Humor in „Riff-Raff“ ist etwas Klassenspezifisches. Den Humor von „Riff-Raff“ teilen vermutlich Bauarbeiter auf der ganzen Welt. Auf jeder Baustelle gibt es ähnliche Charaktere, passieren die gleichen unsinnigen Dinge und herrscht das gleiche Chaos, die die Grundlage für die Gags bilden. Jemand aus der Mittelschicht würde nie solche Witze oder Bemerkungen machen.

Als Kind bin ich in den Ferien mit meinen Eltern häufig ans Meer gefahren. in den Badeorten sind wir dann ins Varieté gegangen, um den Artisten, TänzerInnen und SängerInnen zuzusehen. Ich glaube, der Humor in meinem Film hat viel mit dem Varieté zu tun.

Am Ende von „Riff-Raff“ brennen Stevie und sein Freund das Haus nieder, an dem sie vorher gearbeitet haben.

Das ist eine Metapher. Obwohl in letzter Zeit in London einige Baustellen angezündet wurden. Stevie zerstört etwas, ein Haus, das ihm nicht gehört. Das Ende ist für mich eine Explosion der aufgestauten Wut. Stevie und sein Freund wehren sich gegen die Verletzungen und die Ausbeutung, die die Arbeiter erfahren haben. Sie sagen: „Das lassen wir uns nicht länger gefallen.“

Die Arbeiter in meinem Film sind unpolitisch, sie sind nicht einmal in der Gewerkschaft. Sie sind wütend, weil sie entfremdet sind, entfremdet von ihrer Arbeit. Sie sind Bauarbeiter, die ein Haus bauen, aber selbst kein Dach über dem Kopf haben. Am Anfang des Films besetzt Stevie eine Wohnung, am Ende des Films lebt er noch immer dort. Trotzdem baut er ein Haus für reiche Leute, ist das nicht verrückt? Das Gesellschaftssystem funktioniert einfach nicht. Die Kapazitäten werden nicht genutzt, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.

Das Niederbrennen des Hauses empfinde ich als destruktiv. Im Sinne von: „Macht kaputt, was euch kaputtmacht...“

Wut ist für mich nichts Destruktives. Im Gegenteil, Wut bringt Menschen überhaupt erst dazu, etwas verändern zu wollen. Es gibt entweder Wut oder Passivität. Man darf nicht passiv sein. Man muß über die eigene Ausbeutung und Entfremdung wütend werden. Ich will bestimmt niemanden auffordern, Häuser anzuzünden. Aber ohne Wut kann man nichts machen. Wut kann sehr konstruktiv sein, weil man, nachdem die Wut verraucht ist, anfangen kann, Fragen zu stellen. Fragen stellen ist politisches Handeln.

Aus Ihren Antworten schimmert die Hoffnung auf Veränderungen...

Nur wenn genügend Arbeiter wütend werden. Mit einem Film kann man sicher nicht viel verändern. Filme sind vergänglich. Aber wenn einige Leute „Riff-Raff“ sehen und das Kino wütend verlassen, ist das in Ordnung.

Da ich einen realistischen Film machen wollte, konnte ich keine Arbeiter zeigen, die sich politisch engagieren. Das machen die Leute zur Zeit einfach nicht. Die Standardkritik, die ich von der „Linken“ immer wieder höre, ist, daß ich die rückständigen Elemente, das „Lumpenproletariat“ (auf deutsch) glorifiziere. Ich habe „Riff-Raff“ einer Gruppe von Bauarbeitern vorgeführt, und sie fanden sich angemessen repräsentiert.

Hat es Sie überrascht, daß „Riff- Raff“ für den Europäischen Filmpreis nominiert wurde?

Sogar sehr, es ist nur ein kleiner Film über eine Handvoll Bauarbeiter und ein Mädchen, das nicht singen kann. Deshalb war ich wirklich überrascht. Aber man sollte diese Preise nicht überbewerten. Am Ende muß man doch auf sein eigenes Urteil vertrauen. Man sollte sich nicht zu sehr freuen, wenn man gewinnt, oder niedergeschlagen sein, wenn man verliert. Aber es ist doch immer ein gutes Gefühl, daß es Leute gibt, die die eigene Arbeit mögen.

Das Gespräch führte Michaela Lechner

Ken Loach: Riff-Raff , mit Robert Carlyle, Emer McCourt, Ricky Tomlinson, GB 1991, 94 Min.