Der Unruhige

Der Schauspieler Harvey Keitel. Ein Porträt  ■ Von Gerhard Midding

Er ist ein Grenzgänger zwischen den Sphären des Haupt- und Nebendarstellers. Nach der Rechnung der Hollywoodstudios ist er eher reliable als bankable; in europäischen Filmen wird er oft als Charakterstar eingesetzt. Auf das Vertrauen von Regisseuren, die ihm Türen öffneten und ihn gegen Produzentenwünsche durchsetzten, war er immer ein wenig angewiesen; er dankte es ihnen mit aufsehenerregenden Darstellungen. In diesem Herbst in Harvey Keitel gleich in drei großen Hollywoodproduktionen auf unseren Leinwänden präsent: In Mortal Thoughts (Tödliche Gedanken) und Thelma & Louise spielt er Polizisten, den einen als unerbittlich-mißtrauischen Ermittler, den anderen als Komplizen, der allzeit gewillt ist, den flüchtigen Titelheldinnen einen Sympathievorsprung zu gewähren. In The Two Jakes (Die Spur führt zurück) brilliert er als der zweite Jake, ein undurchsichtiger Mordverdächtiger, der Geheimnisse bewahren kann. Im Frühjahr schon wird er an der Seite von Warren Beatty und Annette Bening in Barry Levinsons und James Tobacks Leinwandbiographie des Gangsters Bugsy Siegel zu sehen sein.

In gut vierzig Filmen hat Keitel seit den späten Sechzigern mitgewirkt, ein Oeuvre reich an Konstanten, auch an Wandlungen und Entwicklungen, arm jedoch an kommerziellen Schattensprüngen. Es fällt schwer, sein heutiges Leinwandtemperament auf die fiebrigen, angespannten Parts zurückzuführen, die er anfangs für Martin Scorsese spielte, zu dem gelassenem Fatalismus der Schlußszene von Die Spur führt zurück wäre er damals nicht bereit gewesen. Auch das amüsierte Lächeln, das in Thelma & Louise seine Züge aufhellt, hätte damals freudlos gewirkt, und er hätte auch sicher nicht so verhalten gespielt wie in den Verhörszenen in Tödliche Gedanken: da fügt er sich nahtlos in den bedrohlichen Gestus des Films ein, da genügen ihm wenige Mienen und Worte, um sein Verhältnis zu den anderen Figuren zu klären, das Augenzwinkern zu seiner mitverhörenden Kollegin etwa, das zeigt, daß zwischen ihnen weder Freundschaft noch Komplizenschaft herrscht.

Er besitzt ein Jedermann-Gesicht, in das man auf den ersten Blick rein gar nichts hineininterpretieren mag. (Interessant, daß er seinem Äußeren so sehr traut: Keitel ist kaum in spektakulären Maskierungen zu sehen, mit falschen Bärten, Brillen oder Perücken.) Doch schon beim zweiten Blick ahnt man Eigenschaften. Die schmalen Lippen wirken lustlos, es fällt ihm leicht, sie skeptisch oder abschätzig zu schürzen. Selten umspielt sie ein schüchternes oder verwegenes Lächeln. Seine Stimme ist rauh und klingt leicht heiser. Seine kleinen Augen können aufmunternd funkeln, sie können aber auch bedrohen, blitzschnell mit stechendem Blick. Der ideale Blick für Verhöre: fast leer und dabei unnachgiebig fragend, von provozierendem Mißtrauen.

Hochgewachsen ist er nicht, dafür drahtig, durchtrainiert und muskulös. Inzwischen auch etwas stämmig. Seine Virilität hat er sich indessen nicht beim Gewichtheben erworben, sondern möglicherweise als Jugendlicher im täglichen Überlebenskampf der hell's kitchen von New York. Sein Gang strotzt vor Kraft. Von seiner Gewalttätigkeit wird noch zu sprechen sein.

Kaum ein Schauspieler seiner Generation hat in derart unterschiedlichen Genres gespielt: in Western (Buffalo Bill And The Indians, Eagle's Wing), in Sciene-fiction-Filmen (Death Watch, Saturn 3), in Historien- und Kostümfilmen (The Duellists, La nuit de Varennes) in Horrorfilmen (The Evil Eyes) u.a.m. Vor allem zwei Schauspielerphantasien hat er sich immer wieder erfüllt: Polizisten und Gangster. Dennoch identifiziert man ihn vor allem mit den frühen Filmen Scorseses, mit den Hauptrollen in Who's That Knocking At My Door? (Wer klopft denn da an meine Tür?) und Mean Streets (Hexenkessel) und den Nebenrollen in Alice Doesn't Live Here Anymore (Alice lebt hier nicht mehr) und Taxi Driver.

In Mean Streets, der für Keitel geschrieben wurde, ist er ein Alter ego seines Regisseurs, der auf der Tonspur seine Stimme mit der Keitels für den Voice-over-Kommentar vermischte. Auch nachdem Robert De Niro in den Mittelpunkt der Scorsese-Filme rückte, blieb er dem Regisseur verbunden. Zwar spielte er in Raging Bull nicht mit, dennoch begleitete er den Regisseur und den Hauptdarsteller bei der weltweiten Publicity-Tour. 1988 betraute ihn Scorsese mit der Rolle des Judas in The Last Temptation of Christ (Die letzte Versuchung Christi), dem grimmig-loyalen Weggefährten des Titelhelden, ein Part, in den er auch ein Gran New Yorker street humor hineinmischte. Seine Rolle in Paul Schraders Regiedebüt Blue Collar knüpft an den Realismus der Scorsese-Filme an und greift etliche von deren Motiven auf, unter anderem den Katholizismus.

Auf die Frage, warum er Schauspieler geworden sei, antwortete der 1939 in Brooklyn geborene Keitel lakonisch: „Ich weiß nicht. Ich war Marinesoldat, Schuhverkäufer und Gerichtsstenograf. Dann wurde ich Schauspieler.“ Schauspielunterricht nahm Keitel bei Stella Adler, Frank Corsaro und in Lee Strasbergs Actors Studio. Seine Parteinahme für Rollen ist leidenschaftlich, fast dogmatisch. Mit ihrer bloßen Funktionalität will er sich nicht abfinden. Eine Rolle wie die des Zuhälters in Taxi Driver hat er sich aus der knappen Vorgabe des Drehbuchs praktisch selbst geschaffen. Zwei Wochen lang probte und improvisierte er zusammen mit einem echten Zuhälter, einer Figur zuliebe, die im Buch nur in einem Satz erwähnt wird. Auch den Text des Liedes, das er Jodie Foster ins Ohr flüstert, hat er selbst verfaßt.

Während der Rollenvorbereitung stellt er sich einem langen Fragenkatalog, um der Figur eine back story, eine Vergangenheit, zu geben, „to fill the part“ heißt das im Vokabular des Actors Studio. Für seine Rolle in The Duellists studierte er Literatur über die napoleonische Ära und besuchte Militärmuseen in Frankreich. Auf Death Watch (Der gekaufte Tod) bereitete er sich anderthalb Jahre lang vor. Schon während der Drehbucharbeit stand er in engem Brief- und Telefonkontakt mit Bertrand Tavernier und besuchte den Autor der Romanvorlage in England. Wochenlang sah er sich mit Tavernier Videoaufzeichnungen von Blinden an, um sich auf den Schlußteil des Films (in dem er sein Augenlicht einbüßt) vorzubereiten. Im Film findet er dann ein wunderbares Bild für die plötzliche Hilflosigkeit seiner Figur: unablässig tritt er von einem Fuß auf den anderen. Keitel ist ein anspruchsvoller, keineswegs bequemer Darsteller: für jedes Wort, jede Geste, jedes Schulterzucken will er vom Regisseur eine Erklärung. Für Tavernier verkörpert er den Typ Schauspieler, der Angst davor hat, allein der Kamera gegenüberzustehen, zumal in aktionsarmen Szenen. Paul Schrader mußte rasch die Erfahrung machen, daß Keitel in den ersten Takes die Bedeutung einer Szene erarbeitete und vom zehnten Take an hervorragend war. Der kreative Rhythmus seines Partners Richard Pryor erschöpfte sich hingegen schon nach drei, vier Takes. (Schrader löste das Problem, indem er fortan zunächst ein Double für Pryor benutzte.)

Wie bei vielen Strasberg-Schülern zeichnet sich Keitels Stil, zumal in den Siebzigern, durch eine Transparenz der Mittel aus. Sein expressives und nachdrückliches Spiel entbehrt nicht einer Redundanz der Blicke und Gesten. Die erste Szene in Taxi Driver: stetes Tänzeln, ausholende Armbewegungen, ein ständig wandernder Blick, abrupt wechselnder Rhythmus und Tonfall seiner Diktion, laszives Spiel mit dem Taschentuch. Die Manierismen sind durch Figur und Situation gerechtfertigt. In Fingers (Fingers — Zärtlich und brutal) treibt er (oder die Regie) den Naturalismus bis zur grotesken Offensichtlichkeit: als jage er dem Gespenst der Intensität von Paroxysmus zu Paroxysmus nach. Coppola feuerte ihn bei Apocalypse Now, weil er ihm zu fieberhaft war, „wie ein Schaupieler aus dem zweiten Glied, der die Zuschauer auf sich aufmerksam machen will“. Es fiel ihm offenbar schwer, sich mit der Rolle des passiven Beobachters (welche später Martin Sheen übernahm) zufriedenzugeben. Death Watch erscheint mir in vieler Hinsicht wie ein Einlenken, wie eine bewußte Abkehr von einer allzu melodramatischen Rhetorik des Gestus. Tavernier ließ ihn Sinatra-Aufnahmen hören, damit er sich dessen entspanntes, sorgloses Tempo aneignete. Vor allem ein Stilmittel hat Keitel im Laufe der Jahre nuanciert und auch perfektioniert: das Spiel seiner Arme und Hände. Schon beim Vorspielen im Actors Studio verblüffte er Strasberg dadurch, daß er die Homosexualität einer Figur allein aus deren Handbewegungen heraus entwickelte. In Mean Streets streckt er seinen Finger entschlossen in eine Kochflamme, als wolle er seine Sünden im Fegefeuer seiner Wahl büßen. Immer dann, wenn ihm seine Geliebte (Amy Robinson) zu nahe kommt, verschafft er sich mit den Armen Distanz. Nach dem Wutausbruch in Alice lebt hier nicht mehr schüttelt er seine Hände aus, als habe er sie gerade gewaschen. Beim morgendlichen Waffengang, der Eröffnung von Die Duellisten, reißt er höhnisch und entschieden die Arme hoch, nachdem er seinen Gegner besiegt hat. In Welcome to L.A. (Willkommen in Los Angeles) akzentuiert er die Überheblichkeit seiner Figur, indem er sie seine Untergebenen die Wange tätscheln läßt. Im ersten Teil von Death Watch hält er die Hände meist geschlossen, später streicht er sich immer wieder mit beiden Händen durch die Haare. In Die letzte Versuchung Christi macht er Chri

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stus (Willaim Dafoe) klar, daß er ihn töten wird, sollte er auch nur einen Fingerbreit von seinem Pfad abweichen. Beim Besuch der Polizisten, die ihn in Two Evil Eyes des Mordes an seiner Frau verdächtigen, hält er seine Ellenbogen krampfhaft fest, eine gleichermaßen schützende wie abweisende Geste. Die Ohrfeige schließlich ist bei ihm immer die erste Stufe der Gewalt, mal setzt er sie wie ein strafender Vater (oder großer Bruder) ein, mal benutzt er sie, um Frauen gegenüber zu demonstrieren.

Method actors waren seit jeher disponiert, im Kino faszinierende Neurotiker zu verkörpern. Auf die Frage, was ihn als Schauspieler charakterisiere, antwortete Keitel: disturbance, Unruhe.

Die frühen Scorsese-Rollen legten die Richtung fest: Keitel verkörpert aggressive Außenseiter. Streitlust und Fanatismus seines Duellisten (einem neurotischen Nachfolger Basil Rathbones) sind ein extremes, aber nicht außergewöhnliches Beispiel. Seine Charaktere sind sich ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht bewußt auf gefährliche und mitunter tragische Weise. Sie sind Getriebene ohne ein Gespür für ihr inneres Zentrum, aber immer bemüht, dem Bild zu genügen, das sie von sich selbst entworfen haben. In Copkiller sieht man ihn oft gedankenversunken im Ledersessel seiner kaum möblierten Wohnung, zwanghaft das immer gleiche Musikstück hörend.

Als Immobilienhändler Jake Berman in Die Spur führt zurück profitiert er von der Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit, bleibt bei aller Geschäftstüchtigkeit aber ein Außenseiter. Seinen Platz an der Sonne hat er nicht finden können, auch ganz wortwörtlich nicht: als Jude darf er selbst keines der Häuser beziehen, das er Kriegsheimkehrern verkauft. Seine Diktion ist wohlberechnet und einstudiert: ein Mann, der bereit ist, in jedem Augenblick die Verkäuferrolle zu spielen. (Keitel: „Wo waren wir gerade?“ Nicholson: „Ich beschuldigte Sie des Mordes, Mr.Berman.“ Keitel: „Nennen Sie mich doch Jake.“) Ein Gegenspieler, der sich souverän in der eigenen Undurchschaubarkeit wiegt. Die wahre Natur der Beziehung Jake Bermans zu seiner Fau Kitty (Meg Tilly) lassen Dehbuchautor Robert Towne und Keitel lange Zeit im ungewissen. Aber eines weiß man recht bald über Berman: er ist verletzbarer, als er sich den Anschein gibt, er hat viel zu verlieren. Das unterscheidet ihn auf den ersten Blick vom Großteil der Keitel-Figuren.

Tatsächlich können sie Frauen äußerst gefährlich werden. Etwa der jungenhaft-schüchterne Redneck Ben in Alice, der urplötzlich eine Jekyll&Hyde-Wandlung durchmacht und sich in einen brutalen Ehemann verwandelt. Der klavierspielende Schuldeneintreiber in Fingers, der sämtliche Frauen demütigt, terrorisiert oder vergewaltigt. Der patriarchische Terroristenführer, von dem es eingangs in Exposed heißt, daß er gern Frauen für seine Zwecke benutzt. Schließlich der machtherrliche Drogenhändler in Camorra, der die sadomasochistische Beziehung zur Heldin höhnisch auskostet. Die Polarität zwische Madonna und Hure, die schon Charlies Frauenbild in Mean Streets bestimmte, klingt in all diesen Figuren dumpf nach. Oft zeichnet Keitel die Prozesse nach, in denen die Enttäuschung in Gewalt umschlägt.

Auch Keitels Bühnenarbeiten verraten sein Faible für Untersuchungen von Virilität und Misogynie, vornehmlich in Stücken zeitgenössischer US-Autoren wie David Rabe und Sam Shepard. In diesem Kontext markiert Death Watch ein weiteres Mal einen Wendepunkt, denn er beschreibt die Wandlung einer Figur. Der Fernsehreporter Roddy hat sich in eines seiner Augen eine Kamera operieren lassen, um das Fernsehpublikum hautnah am Sterben anderer teilhaben zu lassen. Allmählich muß er feststellen, daß er gewisse Intimitätsgrenzen nicht verletzen kann. So bricht er etwa die Zärtlichkeiten mit seiner Ex-Frau ab, weil er weiß, daß dieser Augenblick auf den Fernsehmonitoren mitverfolgt wird. Auch in das Verhältnis zu Romy Schneider, dem Objekt und Opfer seines Kameraauges, schleichen sich Skrupel ein. Keitel versteht es, auf dem schmalen Grat zwischen aufkeimendem Mitgefühl und Mitleid sicher zu wandeln. Daß Roddy schließlich erblindet, gewinnt eine kathartische Dimension.

Seine Polizistenrollen in Tödliche Gedanken und Thelma & Louise entwickeln sich konsequent aus seiner Filmographie: Keitel ist zum Gewährsmann eines maskulinen Zugriffs auf weibliche Gewaltbereitschaft geworden. Hinter dem verständnisvollen Beobachter, der die Kausalität durchschaut, welche Thelma und Louise immer weiter in die Kriminalität drängt, ist unschwer ein gefälliges Selbstbild des Regisseurs zu erkennen: eine idealisierte Figur, befrachtet mit der Last, der einzige männliche Sympathieträger zu sein. Aber Harvey Keitel trägt leicht an ihr.

Jack Nicholsons „The Two Jakes“ mit Nicholson und Keitel in den Hauptrollen kommt nächste Woche in die bundesdeutschen Kinos.