Europa schafft sich neue Asylbürokratie

Kurz vor dem Maastrichter Gipfel verhandelten die zuständigen EG-Minister noch einmal über eine gemeinsame Asyl-und Migrationspolitik/ Liste „verfolgungsfreier“ Länder soll bestimmt werden  ■ Von Andrea Böhm

Omaya Wehbes Ziel hieß eigentlich Kanada — doch Endstation war der Transitraum des Londoner Flughafens Heathrow. Beamte der britischen Einwanderungsbehörde griffen die 38jährige Libanesin mit ihren vier Kindern auf und verhinderten die Weiterreise nach Übersee.

Omaya Wehbe blieb nichts anderes übrig, als auf britischem Boden Asyl zu beantragen — mit einer für britische Ohren außergewöhnlichen Begründung. Die 38jährige Frau, die sich aus Angst vor Verfolgung im Libanon nach Berlin durchgeschlagen hatte, war aus der Bundesrepublik geflohen, nachdem ihr Wohnheim mehrfach von Neonazis angegriffen und ihr siebenjähriger Sohn nach einem Überfall mit Reizgas zeitweise erblindet war. Ihre Chancen, in Großbritannien Asyl zu bekommen, sind gleich null. Omaya Wehbe hat sich im Netz der neuen europäischen Asylpolitik verfangen: Großbritannien wird die Libanesin und ihre vier Kinder zurückschicken und sich dabei auf die EG-Asylkonvention von Dublin und die „Harmonisierung“ der europäischen Asylpolitik berufen. Danach darf jeder Flüchtling, sofern er überhaupt noch an Europas Grenzen gelangt, nur in einem Land Asyl beantragen — und zwar dort, wo er zuerst EG-Territorium betreten hat.

„Harmonisiert“, wie es im EG- Jargon heißt, wurden bislang nur Maßnahmen zur Abschottung der Außengrenzen: Man einigte sich auf eine Liste nichteuropäischer Länder, die EG-weit dem Visumzwang unterliegen, was zum Beispiel für einen politisch verfolgten Tamilen bedeuten würde, daß er sich vor seiner Flucht vor Militär und Polizei bei der deutschen Botschaft in Colombo um einen Sichtvermerk anstellen müßte. Ihm bleibt nichts weiter übrig, als sich weiter im Untergrund zu verstecken oder zu versuchen, illegal nach Europa einzureisen — mit gefälschten Reisepapieren oder mit der Hilfe von Schleppern. Auch für diesen Fall haben die EG-Staaten vorgesorgt: Als Aufpasser müssen bereits seit längerem die Transportunternehmen, vor allem die Fluggesellschaften, fungieren. Nehmen sie einen Passagier an Bord, dessen Papiere sich bei der Ankunft in London, Paris oder Frankfurt als gefälscht oder unvollständig herausstellen, droht dem Reiseunternehmen ein Bußgeld — und die Aussicht, den Flüchtling auf Verlangen der Grenzbehörden wieder ausfliegen zu müssen. Solche Sanktionen sind auf nationaler Ebene in mehreren Ländern bereits Praxis und sollen nun auf EG- Ebene abgestimmt werden. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) hat gegen diese Abschottungspraktiken bereits mehrmals protestiert, weil Flüchtlinge den völkerrechtlich verankerten Schutz vor politischer Verfolgung gar nicht mehr in Anspruch nehmen können, weil sie das Territorium des potentiellen Aufnahmelandes gar nicht mehr erreichen.

Vorgedacht und ausformuliert wurde diese Abschreckungspolitik in einer Art und Weise, für die der Begriff „demokratisches Defizit“ noch eine galante Untertreibung ist: Minister und Ministerialbürokraten verhandelten unter Ausschluß der Öffentlichkeit und fast unbehelligt von jeglicher parlamentarischer Kontrolle. Dabei wurden die Weichen nicht auf EG-Ebene, sondern im Rahmen der Mitgliedsstaaten des „Schengener Abkommens“ gestellt, zu denen zunächst die Benelux-Länder, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland gehörten. Diese Gruppe (der inzwischen auch Italien, Spanien und Portugal beigetreten sind) entwickelte sich schnell zur europäischen Avantgarde vor allem in den Bereichen polizeilicher Zusammenarbeit, Asyl- und Einwanderungspolitik. Die Beteiligten waren jeweils ihren Ministerien Rechenschaft schuldig, aber nicht ihren nationalen Parlamenten oder gar dem Europaparlament. Die EG-Kommission, die ursprünglich einmal einen „Vorentwurf für eine Gemeinschaftsrichtlinie“ für die Asylpolitik vorgelegt hatte, wurde durch die „Ad-hoc-Gruppe Einwanderung“ der zwölf für Einwanderungsfragen zuständigen Minister ausgespielt. Auch dort wurden außerhalb des EG-Rahmens und damit auch der Kontrolle des Parlaments die Maßgaben für eine europäische Asylpolitik festgeklopft. In der Regel kopierte man schlicht und einfach, was die Schengen-Gruppe bereits vorformuliert hatte.

Der „Harmonisierungsprozeß“ in Sachen Einwanderung und Asyl ist damit aus Sicht der zuständigen Politiker noch keineswegs abgeschlossen. Wenige Tage vor dem EG-Gipfel in Maastricht trafen sich in Den Haag noch einmal die für Einwanderungsfragen zuständigen Minister, um ihren Regierungschefs Vorschläge für eine materielle Angleichung der Asylpraxis auf den Weg zu geben. Denn weder das Schengener Zusatzabkommen noch die Asyl- Konvention von Dublin regeln, wer in einem vereinigten Europa in Zukunft Anrecht auf Asyl haben soll und wie ein einheitliches Anerkennungsverfahren aussehen sollte.

In Den Haag befaßten sich die Minister unter anderem mit einem Vorschlag, der auch in der bundesdeutschen Asyldebatte immer wieder auftaucht: die Einführung einer Liste sogenannter „verfolgungsfreier“ Länder, in denen politische Verfolgung erst einmal pauschal ausgeschlossen wird. Nach einem solchen System verfahren bereits die Behörden in der Schweiz, die Asylsuchende aus einem als „sicher“ eingestuften Land kurzerhand wieder ausweisen können. Der Flüchtling hat zwar die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen — aber erst nachdem er abgeschoben worden ist. Im internationalen Sekretariat von ai in London rauft man sich angesichts solcher Pläne die Haare. „Die Gefahr einer solchen Liste vermeintlich sicherer Länder“, erklärte ai, „liegt ganz einfach darin, daß sie nach außenpolitischen oder migrationspolitischen Gesichtspunkten zusammengestellt wird und nicht unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechtsverletzungen in dem jeweiligen Land.“

Überhaupt, so argumentiert ai, werde jeder Ansatz zu einer konstruktiven europäischen Asylpolitik unterminiert durch das Bestreben, illegale Einwanderung aus dem Norden und Süden zu stoppen. Anstatt immer kompliziertere und bürokratischere Einwanderungsbeschränkungen und Verfahren einzuführen, sollte man unabhängige Gremien, bestehend aus Menschenrechtsexperten, einführen, um Asylsuchende anzuhören.

Der Fall von Omaya Wehbe jedenfalls demonstriert, welch groteske Folgen die neue europäische Asylbürokratie haben kann: Sie, die gar nicht in Europa bleiben wollte, wo sie sich weder sicher noch erwünscht fühlt, wird zum Asyl gezwungen.