Brandenburgs Stahlkocher hoffen noch immer

Die Verhandlungen mit der Treuhand blieben bisher ohne Ergebnis/ Im Stahlwerk Brandenburg wird noch gearbeitet/ Der Betriebsrat agiert wie das Management und entwickelt eigenständig Konzeptionen für die Umstrukturierung/ Treuhand will am Samstag entscheiden  ■ Von Martin Kempe

„Avanti, avanti“, rufen sich die Kollegen durch den infernalischen Krach zu, als sich die 155 Tonnen Schrott in den Ofen 1 des Elektrostahlwerks in Brandenburg entladen. Damit beginnt der etwa eineinhalbstündige Schmelzprozeß, an dessen Ende sich rund 145 Tonnen flüssiger Stahl in die Strangießanlage des Werks ergießen. Die Stahlkocher aus der märkischen Industriestadt üben schon mal Italienisch, denn ihre Anlage gehört zum Kernbereich des Brandenburger Stahlwerks, das nach einem Beschluß der Berliner Treuhandanstalt der italienischen Riva- Gruppe zufallen soll. Das auf dem weitläufigen Firmengelände außerhalb der Stadt gelegene Elektrostahlwerk ist der modernste Teil des Werks, um dessen Privatisierung seit Wochen heftig gestritten wird.

Auch gestern gingen die Verhandlungen mit der Treuhand ununterbrochen weiter. Nach einer Mitteilung des brandenburgischen Regierungssprechers Aischmann zeichnete sich bei den Vermittlungsgesprächen mit Ministerpräsident Stolpe am Dienstag abend zwar eine Einigung ab, über die aber vorerst Stillschweigen bewahrt werden solle. Der Verwaltungsrat der Treuhand will am Samstag sowohl über das Stahlwerk Brandenburg als auch über das Stahlwerk Hennigsdorf entscheiden. Damit gibt es für die rund 4.000 Beschäftigten, die nicht vom Riva-Konzern übernommen werden sollen, nach wie vor keine Gewißheit über ihre unmittelbare Zukunft. Zwar gibt es inzwischen eine Zusage der Treuhand, das technisch veraltete Siemens-Martin-Werk bis Mitte 1994 weiterzuführen. Aber weitere Forderungen der Arbeitnehmerseite nach Verlängerung der Kurzarbeit bis Ende 1992, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen wurden bisher von der Treuhand nicht erfüllt.

Gerade weil die Treuhand derartige Überbrückungsmaßnahmen für die von Kündigung bedrohten Teile der Belegschaft nicht übernehmen will, hatten die Betriebsräte der Stahlwerke Hennigsdorf und Brandenburg sich gegen die Übernahme durch den Riva-Konzern ausgesprochen und das Angebot eines deutschen Konsortiums unter Beteiligung der Badischen Stahlwerke und des Thyssen-Konzerns favorisiert. Denn die Deutschen hatten zugesichert, sich auch in den zu gründenden Beschäftigungsgesellschaften und für die Ansiedlung neuer Betriebe an den beiden Standorten zu engagieren.

Die Brandenburger Stahlwerker haben bisher von Besetzungsaktionen wie in Hennigsdorf abgesehen. Sie versuchen immer noch, wie der Betriebsrat und Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses Gunther Rotter meint, mit den besseren Argumenten zu überzeugen. Rotter, als Ingenieur für Stahlgewinnung und ehemaliger Werksleiter des mit westlicher Technologie errichteten Elektrostahlwerks ein hochkarätiger Fachmann, könnte ebenso wie einige andere seiner Betriebsratskollegen nach Qualifikation und Engagement auch im Management des Werks sitzen. Aber er hat sich nach der Wende im Betriebsrat und in der Gewerkschaft engagiert, um für seine Kolleginnen und Kollegen das Beste herauszuholen.

In mancher Hinsicht agieren Rotter und der Betriebsratsvorsitzende Wolfgang Orphal in der Ausnahmesituation des Umbruchs, als säßen sie auf der anderen Seite, im Management. Sie erarbeiten Konzeptionen für die Privatisierung von Teilbereichen. Sie verhandeln mit potentiellen Investoren. Sie begutachten Investitionspläne nach ihrer technischen und betriebswirtschaftlichen Qualität. Dutzende von Ordnern kann Rotter aus seinem Schrank ziehen, in denen die Vorschläge des Betriebsrats für die Sanierung und Umstrukturierung des Werks festgehalten sind. Es sei vor allem der Initiative des Betriebsrats zu danken, wenn Geschäftsführung und Betriebsrat des Brandenburger Werks inzwischen überhaupt an den Verhandlungen über die Zukunft des Werks und ihrer Beschäftigten beteiligt würden.

Auch in Brandenburg sollen etwa 1.000 Arbeitsplätze im Kernbereich der Stahlproduktion erhalten bleiben. Für die übrigen rund 4.000 Beschäftigten gibt es in der Stahlproduktion keine Perspektive. Sie werden in Arbeitsbeschaffungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen gesteckt oder in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Einer von ihnen ist Gerd Maager, der als „leitender Technologe“ seit dem Neubau des Elektrostahlwerks Anfang der 80er Jahre die Produktion beaufsichtigt. Gerd Maager ist im November 55 geworden, fühlt sich gesund und arbeitsfähig — ein erfahrener Fachmann, ein Stahlkocher aus Leidenschaft. Ob er freiwillig zum Ende des Jahres in den Vorruhestand geht? Die Antwort ist nur ein stummes „Nein“.