»Einmal der Größte sein...«

■ Neun Jugendliche aus dem Ostteil der Stadt verunglückten in diesem Jahr beim S-Bahn-Surfen/ Sechs junge Männer bezahlten mit ihrem Leben/ Ist die gefährliche Mutprobe im Westen »out«?

Berlin. »Wenn der Sommer zu Ende ist, erzähle ich meiner Mutter, daß ich gesurft habe. Sie bittet mich dann, laß es sein. Ich höre auf sie — bis zum nächsten Sommer.« Das sagte kürzlich ein 15jähriger Ostberliner Jugendlicher in einer Sendung des Jugendfernsehens Elf 99 über das S-Bahn-Surfen und lachte. Die traurige Statistik der Todesfälle gibt ihm recht: S-Bahn-Surfen ist ein mörderischer Sommersport. In diesem Jahr bezahlten sechs junge Männer zwischen Mai und August mit ihrem Leben, daß sie bei 80 Stundenkilometern Fahrt an der Außenwand der S-Bahn entlanggeturnt waren. Wenn sie nicht einfach den Halt verloren, wurde ihnen ein Pfeiler, eine Mauer oder eine Brücke zum Verhängnis.

Aber selbst im Winter wollen einige wenige Jugendliche nicht von dem Wahnsinn lassen: Vor drei Tagen stürzte der 15jährige Schüler Niko L. kurz hinter Rahnsdorf vom fahrenden Zug. Er wurde mit schweren Kopfverletzungen in das Köpenicker Krankenhaus eingeliefert — dort kämpfen die Ärzte seither um sein Leben.

Doch auch im Westteil der Stadt — über den es heißt, daß S-Bahn-Surfen hier inzwischen „out“ sei — kam es am vergangenen Wochenende zu einem Unfall, diesmal in der U-Bahn. Kurz hinter dem Bahnhof Fehrbelliner Platz hielt sich der 19jährige Klaus-Peter B. an der Stange im Abteil fest und schwang seine Beine durch die geöffnete Tür. Prompt prallten seine Beine gegen einen Mast, und er wurde in den Tunnel gerissen. Sein 20jähriger Bruder Klaus-Dieter zog sich eine schwere Handverletzung zu. Beide Brüder liegen seither in der orthopädischen Universitätsklinik Oskar-Helene- Heim — Klaus-Peter auf der Intensivstation.

Für BVG-Sprecher Wolfgang Göbel ist der tragische Unfall in der U-Bahn ein Einzelfall. Davon, daß Jugendliche in diesem Jahr in West- Berlin auf S- oder U-Bahnen gesurft seien, ist ihm nichts bekannt. Wenn überhaupt, dann sei S-Bahn-Surfen ohnehin nur auf der langen Strecke im Grunewald möglich. Aber wenn kein Fahrgast davon Mitteilung mache und sich kein Unfall ereigne, so Göbel, erfahre die BVG davon nichts.

Im Gegensatz zur S-Bahn, wo der Abstand zwischen Wagen und Signalmast im Westen auf freier Strecke 42 Zentimeter und im Tunnel 25 Zentimter betrage, wäre das Surfen im U-Bahn Tunnel »reiner Selbstmord«. Dort beträgt der Abstand zwischen Zug und Tunnel 15 Zentimeter. Eine Möglichkeit, das Öffnen der Türen während der Fahrt zu verhindern, gibt es laut Göbel nicht. Bei der neuen S-Bahn der Baureihe 480, die bislang aber nur auf einigen Strecken eingesetzt sind, wird durch das Öffnen der Tür ein Signal ausgelöst, daß der Zug automatisch ausrollt.

Bei den uralten S-Bahn-Wagen der Reihe 275, die auf den Strecken Buch, Oranienburg, Strausberg, Blankenburg und Bernau in Ost-Berlin noch reichlich verkehren und wo die meisten Surfer verunglückten, merken die Fahrer in der Regel nichts. Mit einem Abstand zwischen Waggon und Mast von 30 Zentimetern ist der tödliche Unfall vorprogrammiert, weiß Reichsbahnsprecher Hans Prast. Von den acht Jugendlichen, die in diesem Sommer verunglückten, überlebten nur zwei Mädchen.

Aber das S-Bahn-Surfen ist keineswegs nur eine in den Osten hinübergeschwappte Wendeerscheinung. »Solche Art von Mutproben und Leichtsinn gab es auch schon vor drei Jahren«, bedauert der Chefarzt für Intensivmedizin des Klinikums Buch, Manfred Schneider. Bei ihm landen viele S-Bahn-Unfall-Opfer, meist Betrunkene, die aus dem Zug gefallen sind, weil das Krankenhaus an der S-Bahn-Strecke nach Buch liegt. Nach Angaben des Chefarztes werden manche Verletzte erst viel später zufällig neben den Gleisen gefunden. Aufgrund des großen Blutverlustes seien die Überlebenschancen gering.

Im Jugendfernsehen Elf 99 wurde ein 15jähriger Ostberliner, der beim S-Bahn-Surfen mit einem Hüftbruch davongekommen war, nach seiner Motivation gefragt. Langeweile und Mut beweisen, lauten seine Gründe: »Man will einmal der Größte sein.« Bleibt zu hoffen, daß die Ostberliner Jugendlichen bald genauso zu dem mörderischen Sport stehen, wie es die Westberliner nach Angaben eines ehemaligen Surfers aus Lichtenrade schon länger tun: »Im Westteil von Berlin ist das einfach out. Darüber redet hier niemand mehr«. Plutonia Plarre