LESUNG STERNE

■ Ein Gockel & ein Bulle: Durch den "Tristram Shandy" perambulierend

Es war kaum acht Uhr durch, als mich Harry Rowohlt schon ein „Arschloch“ geheißen hatte. Merkwürdigerweise hatte es diesmal wirklich und wahrhaftig mit Literatur zu tun: Harry Rowohlt sollte um drei Uhr morgens lesen, und da war die Frage wohl berechtigt, ob es denn verlohne, so lange aufzubleiben. Jedenfalls bin ich so lang (und länger) geblieben, und, ja, es hat sich gelohnt.

Eine Dauerlesung war versprochen worden: das ganze (allenfalls leicht gekürzte) Werk, Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman, 1759 bis 1767 erschienen, sollte einschließlich des griechischen Mottos (Tarassei toyw Anurv- poyw oy pragmata,/ 'Alla ta

peritvn pragmatvn Dogmata), der schwarzen Seiten, des Schwanzes im neunten Buch, viertes Kapitel, einschließlich sämtlicher Parenthesestriche und verschämten Auslassungssternchen in einer einzigen langen Nacht zum Vortrag kommen. Eine nicht ganz beispiellose Hörfolter, denn ähnliche Benefizveranstaltungen ereigneten sich zu Hamburg in der Vergangenheit zum Besten von James Joyce (Ulysses) und von Flann O'Brian (In Schwimmen-zwei-Vögel).

Das Hauptwerk des Autors Mr.Laurence Stern (wie ihn die Plakate angekündigt hatten — das fehlende End-e war mit zartem Filzstift nachgetragen) wurde in neuer deutscher Übersetzung (von Michael Walter) zur Aufführung gebracht. Statt des Ur-Autors saß also ein stummer, wenn auch nicht steinerner Gast im Lehnsessel auf der Bühne, rief etwas marktschreierisch die einzelnen Kapitel aus, rückte stündlich den Zeiger der Standuhr nach und kratzte sich, während mitternächtens Max Goldt las, heftig, wo nicht zu sagen: vielsagend unter der Perücke. Neben ihm, gegängelbändelt ebenso wie beschutzengelt, nahm im stündlichen Wechsel ein Autor oder Übersetzer, einmal auch eine sog. Publizistin Platz, dazu kamen als Kuriosiraritäten je ein Anwalt und ein mä-10.

Just dieser las und auch noch auffällig gut aus dem zweiten Buch, als wir, verspätet natürlich, aber mit noch dampfenden Rossen, bei der Altonaer Fabrik anlangten. Die Fabrik hatten wir zuletzt vor vielleicht eineinhalb Jahren aufgesucht, um dem Künstler Jerry Lee Lewis zu lauschen und in der unziemlichen Aufregung eine schlimme Nebenhöhlenentzündung davonzutragen.

Pseudowissenschaftliche Digression

Michael Walter hat, wie gesagt, den Tristram Shandy neu ins Deutsche gemogelt und ist damit einem Wunsch Arno Schmidts nachgekommen, der vorzeiten laut vor sich hin träumte, „wie schön es wäre, wenn der Tristram Shandy endlich einmal ins Deutsche übersetzt würde“! Das war das Buch zwar längst und gleich mehrfach, doch seinerzeit, in den Sechzigern, ließ Schmidt allein die Übertragung Adolf Friedrich Seuberts gelten, erschienen um 1880 bei Reclam in Leipzig und heute wieder erhältlich, revidiert und mit wissenschaftlichem Anhang, als insel taschenbuch zum Spottpreis von 22DM. Die neue Ausgabe — neun Einzelbände, aufwendig und raumgreifend gesetzt, außerordentlich schön gestaltet, wie sie sein mag — nötigt dem besitzgierigen Leser die Kleinigkeit von 298DM ab. Wohl dem, der sich reicher Eltern oder eines treuen Freundes beim Haffmans-Verlag rühmen kann! Ende der pseudowissenschaftlichen Digression, folgt die

Literaturkritische Ausschweifung

„Ich war fünf Jahre alt — Susannah bedachte nicht, daß nichts in unserer Familie gut bestückt war, — und schnapp! fuhr das Fenster wie der Blitz auf uns herab; — Nichts bleibt übrig, — rief Susannah.“ Mit diesen keusch errötenden Auslassungen schildert Sterne die Urszene des Tristram Shandy: der Held und Ich-Erzähler wird, wenn er auch mit dem Wesentlichen davonkommt, beim Wasserlassen von einem herabsausenden Fenster beschnitten. Wie später der Ulysses mit Leopold Blooms ebenso häufigen wie vergeblichen Gängen zu den Weibern, wie Arno Schmidts Abend mit Goldrand und schon Zettel's Traum ist auch Tristram Shandy ein Produkt der Junggesellenliteratur: Einsames Gehirntier beschäftigt sich so gründlich mit seinen Schöpfungen, mit dem Wortemachen, daß für die Frauen keine Zeit, allenfalls gnädig mitgeteilte Gelehrsamkeit bleibt. Versäumnis wird durch exzessives Reden über die Frauen kompensiert. Am einfachsten wird man ihrer mit Schuljungenwitzen Herr, an denen es denn weder bei Sterne noch bei Joyce noch bei Schmidt mangelt. Deshalb wirft die Nase ihren Schatten über Tristram Shandy, und in ebenso eindeutiger Absicht ist ständig vom hobby-horse die Rede, jenem Steckenpferd, das, wie Sterne einmal extemporiert, seine Mannsleute nötig haben, weil sie nach einem Ersatz für Sex suchen. Sternes Frauen verkopfen sich dagegen nicht lang, sondern besteigen das Steckenpferd ohne Umschweife, das heißt: sie würden's gerne tun, wenn die Männer nicht unter chronischer Zeugungsunlust litten oder in einer Belagerung des alles entscheidenden Dings verlustig gegangen wären. Man kann es auch bündiger sagen, so wie Rolf Vollmann über Jean Paul (auch er ein verheirateter Junggeselle): „Der große lover, ich glaub', er hat einfach nicht gerne gevögelt.“

Alkoholisierter Exkurs

Noch ehe die Lese-Reihe an ihm war, bekannte Max Goldt freimütig, daß er den Tristram Shandy nie gelesen habe, ihn auch ein ziemlich dummes Buch finde, wie er bei der Vorbereitung auf seinen Teil gefunden habe. Im zunächst zahlreich erschienenen Hamburger Publikum rückten erstaunlich viele Zuhörer ungefragt mit dem Bekenntnis heraus, daß sie dieses rare Buch ebenfalls nie selber gelesen hätten, aber vorgetragen, das sei schon was. „Ich möchte nur wissen“, hieß es da etwa [aber natürlich hieß es anders, denn ich zitiere nicht aus der neuen, sondern aus der Seubertschen Übersetzung], „was all der Lärm und das Hin- und Herrennen da droben zu bedeuten hat? sagte mein Vater (nachdem sie etwa anderthalb Stunden schweigend beisammen gesessen waren) zu meinem OnkelToby — der am anderen Ende des Kaminfeuers saß und die ganze Zeit her sein geselliges Pfeifchen rauchte und dabei ein paar neue schwarze Sammethosen, die er anhatte, betrachtete; — was mögen sie wohl tun? sagte mein Vater, — wir können ja kaum unser eigenes Wort hören.

Ich denke, erwiderte mein Onkel Toby, indem er die Pfeife aus dem Mund nahm und mit dem Kopf derselben ein paarmal auf den Nagel seines linken Daumens klopfte, ehe er seine Rede begann — ich denke, sagte er, —“ ———— allein, es vergehen (in der Insel-Ausgabe) geschlagene vierzig Seiten, ehe Onkel Toby den Vorschlag anbringen darf, vielleicht nach dem Diener zu klingeln. Und was nun das Gelärm über den beiden am Kamin angeht, so handelt es sich dabei um die Geburt des Erzählers. Daß er schon vor seiner Geburt, ja vor seiner Zeugung über alle Umstände in der näheren und weiteren Verwandtschaft Bescheid weiß, gehört zu den zahlreichen Wundern dieses wunderlichen Romans. Wahrscheinlich ist Sternes beständiges Rhapsodieren, Psalmodieren, Radotieren, Bramarbasieren, Räsonieren und vor allem sein nimmermüdes Equilibrieren zwischen Hunderten von Ausflüchten und Abschweifungen von einer nichtexistenten Handlung nur in öffentlicher Dauerlesung und mit gründlichem Alkoholabusus zu überstehen.

Gleichwohl mußte ich um halb sechs kapitulieren. Im Taxi, der Morgen wollte noch nicht recht grauen, lief A Whiter Shade of Pale. Procol Harum hat nach fünfzehn Jahren wieder eine Platte aufgenommen. Im Januar kommt die Gruppe nach Deutschland. Um ganz sicher zu gehen, holte ich zu Hause den Tristram Shandy aus dem Regal. Ja, und richtig, da stand, was ich in den restlichen Stunden noch versäumen würde: „Herr Gott! sagte meine Mutter, von was handelt denn eigentlich diese ganze Geschichte —? Um einen GOCKEL und einen BULLEN, sagte Yorick, und um eine der schönsten Geschichten, die ich jemals hörte.“

EINGOCKEL&EINBULLE:DURCHDEN„TRISTRAMSHANDY“PERAMBULIEREND