In den Turnhallen bröckelt Putz

Die Tage des bislang so übermächtigen sowjetischen Turnens sind gezählt: Nach den Olympischen Spielen 1992 zerfällt das Team in einzelne Segmente/ Die Trainer zieht es ins Ausland  ■ Aus Moskau Thomas Schreyer

Die Fahrt dauert vom Moskauer Zentrum fast vierzig Minuten, zuerst auf der Leningrader Hauptstraße Richtung Norden, dann weiter auf einer kleinen Straße über unzählige Schlaglöcher bis zu einem Zaun mit einem elektrischen Tor, das auf ein Hupzeichen hin geöffnet wird.

Das Leistungszentrum „Ozero Kruglaja“ hat eine große Schwimmhalle und drei große Turnhallen sowie einige Gymnastik-, Gewichts- und Massageräume. Am Eingang zur Mensa ist die olympische Losung „schneller, höher, weiter“ zu lesen. Und die Begrüßung „Herzlich Willkomen“ ziert in Großbuchstaben das Wohnheim, in dem die Sportlerinnen und Sportler untergebracht sind.

Hier also sind die „Unbesiegbaren“, die „Immer-Ersten“ zu Hause, hier werden die Meisterinnen und Meister gemacht. Erstaunlich einfach sind die Einrichtungen gehalten. In den Turnhallen bröckelt der Putz von den Wänden — der optische Vorbote des beginnenden Zerfalls? Nein, im Augenblick können die Turnerinnen und Turner noch auf eine (fast) heile Welt blicken. Aber der Schein trügt nicht. Bei allem Optimismus — die Tage sind gezählt.

„Wir spüren jetzt schon Einbußen“, stöhnt Leonid Arkajew, Cheftrainer der Turner. „Aber ich kann versichern“, fährt der 51jährige fort, „bis zu den Olympischen Spielen ist alles gesichert.“

Erst im November hatten die Nationalen Olympischen Komitees der Sowjetrepubliken dem IOC offiziell mitgeteilt, mit einem Team in Barcelona starten zu wollen. Ob Natalja Latschenowa, die in Stuttgart 1989 Weltmeisterin mit der Sowjetunion wurde und zur Zeit wieder in ihrer Heimatstadt Riga trainiert, für Lettland reaktiviert wird, ist noch offen. Die sowjetischen Turnerinnen und Turner wird es so, wie sie bisher aufgetreten sind, aller Voraussicht nach nicht mehr geben. „Es ist schwer zu sagen, wie das alles nach dem August 1992 aussehen wird“, meint Arkajew, „es wird starke Teams aus Rußland, aus Weißrußland und der Ukraine geben.“

Der ukrainische Weltmeister Misiutin wird dann kaum mehr in Rußland trainieren wollen, wenn er gleiche Trainingsmöglichkeiten in seinem Land vorfindet. Swetlana Boginskaja könnte wohl, sollte sie nach Barcelona noch aktiv sein, ins weißrussische Minsk zurückkehren. Und für die am Wochenende beim DTB- Pokal in Stuttgart turnende Ukrainerin Tatjana Gutsu und den Weißrussen Witali Scherbo ist es möglicherweise der letzte gemeinsame Auftritt unter einer Fahne bei einem DTB-Pokal.

Ein nicht mehr existierendes Imperium kann dann freilich nicht mehr repräsentiert werden. Und es hat den Anschein, als ob die Trainer nicht gewillt sind, in Moskau einen „Restbestand“ so weiterzutrainieren wie bisher. Während Frauen-Trainer Alexandrow alle Vermutungen zurückweist, für die Zeit nach Barcelona eine Anstellung im Ausland gefunden zu haben („Gerüchte, ich würde nach Frankreich gehen, sind völlig aus der Luft gegriffen“), findet Männer-Boß Arkajew ebenso klare Worte. Er, der als ehemaliger Mannschaftsweltmeister (1966 in Dortmund) dem Turnen aufs engste verbunden blieb („Ich wurde gleich nach meiner Aktiven-Zeit Trainer“) und das Männerturnen in der ehemaligen Sowjetunion entscheidend geprägt hat, will Moskau verlassen. Weil ihm als Schüler Klimmzüge und „das Kräftemessen überhaupt“ gefallen haben, sei er zum Turnen gelangt. Klimmzüge in Moskau wird er jedoch nicht mehr viele machen. „Ich habe noch nichts Konkretes in Aussicht“, bekennt Arkajew. „Ich bin mir nur sicher, daß ich mich nach Barcelona im Ausland engagieren möchte!“

In seinem kleinen Arbeits- und Wohnraum des Moskauer Turninternats liegt ein kleines gelbes Büchlein auf seinem Schreibtisch: ein Sprachführer Russisch-Deutsch.