DOKUMENTATION
: Von Mut und Maßstab

■ Die Opfer des SED-Regimes bedürfen nicht der Rehabilitation, sondern der Gerechtigkeit, des Respekts und einer angemessenen Entschädigung

Frau Präsidentin! Sehr vereehrte Damen und Herren! Kann vergangenes Unrecht trotz seiner Vergangenheit wiedergutgemacht werden? Der christliche Glaube gibt auf diese Lebensfrage eine bejahende, eine optimistische Antwort. Aber dieser Glaube ist nicht jedes Mannes und jeder Frau Sache. Das Recht aber ist etwas, was jeder Frau, jedem Mann, jedem menschlichen Wesen zusteht.

Woher also nehmen wir den Optimismus, Unrecht wiedergutzumachen, bei dem es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ganze Menschengruppen, die einer der großen politischen Katastrophen unseres Jahrhunderts zum Opfer gefallen, in ihrer Menschenwürde beleidigt und in ihren persönlichen Rechten beschädigt und diskriminiert worden sind? Wir nehmen ihn aus dem gleichen Mut, mit dem die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde an dessen Spitze gesetzt haben, nachdem diese Würde millionenfach so angetastet wurde, daß sie ebensooft zerstört schien. Dieser Mut entstammt der Gewißheit, daß die Menschenwürde uns mit allen denen gemeinsam ist, die deren Verletzung erlitten haben. Allein aus dieser Gemeinschaft mit den Opfern, mit den Betroffenen, können wir jetzt den Mut schöpfen, das Unrecht zu bereinigen, das hinter der Berliner Mauer, an den Stacheldrahtgrenzen und in Stasi- und anderen Kerkern begangen worden ist.

Der Staat ist kein Garant für Recht

Hierzu bedarf es des ganzen Mutes und der gesammelten Energie aller Verfassungsorgane unserer Demokratie: Ist es doch staatliches Handeln gewesen, das statt Recht zu sprechen, zu sichern und zu erneuern, Unrecht getan, Recht zerstört hat mit den Mitteln der öffentlichen Sicherheit, der Gesetzgebung und der Justiz.

Wir können nicht mehr davon ausgehen, daß etwas an und für sich Recht sei, weil es durch den Staat gesetzt und realisiert worden ist. Seit der Barbarei zweier Weltkriege können die beteiligten Staaten nicht mehr durch ihre bloße Existenz die Autorität beanspruchen, daß etwas Recht sei, weil sie es zum Gesetz gemacht haben. Ihre Legalität ist erst dann eine legitime, wenn sie sich an den kanonischen Maßstäben des Menschenrechts und der Menschenwürde gemessen und bewährt hat. Es ist wichtig, daß die Gesetzgebung des geeinten Deutschland zu erkennen gibt, sie sei willens, sich diesem Maßstab zu unterstellen.

Die Verabschiedung des MfS- Unterlagengesetzes und die erste Lesung des Unrechtsbereinigungsgesetzes sollten — abgesehen von ihrem Inhalt — als ein politisch-moralischer Akt anerkannt werden, in welchem sich die Demokratie mit denen solidarisiert, deren Menschen-, Bürger- und Bürgerinnenrechte in der Vergangenheit verletzt wurden. In diesem Sinne kommt dem Namen des vorliegenden Entwurfs besondere Bedeutung zu. Es ist ein erstes Unrechtsbereinigungsgesetz, weil ihm, in weiteren Gesetzgebungsschritten, andere folgen müssen. Aber kann der Entwurf in der jetzigen Form diesem gewaltigen Anspruch gerecht werden? Ich denke, daß es hier noch erheblicher Arbeit und eingehender Diskussionen bedarf, ehe wir uns zufrieden geben können, auch wenn das schnell geschehen muß.

Ganze Bevölkerungsteile erlebten Rechtszerstörung

Ein Gesichtspunkt verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Der Entwurf versucht, das Verfahren der Kassation von Urteilen mit dem Ziel der Rehabilitation zu verbinden. Aber wird das der Aufgabe gerecht, die die Gesetzgebung hier zu lösen hat, nämlich flächendeckende und ganze Bevölkerungsteile verletzende Rechtszerstörung aufzuheben, an ihrer Stelle Recht wiederherzustellen? Niemand beurteile das als eine abstrakte Prinzipienfrage. Nicht ohne Grund geraten wir mit dem Begriff der Rehabilitation in die Nähe einer fatalen Praxis kommunistischer Parteien, die, nachdem sie Hekatomben aus den eigenen Reihen moralisch und physisch vernichtet hatten, dieselben Leute nachträglich rehabilitieren, als seien sie von einem Makel zu befreien, der ihnen anhaftet, weil sie Opfer politischer und terroristischer Repression geworden waren. Nein, wenn sich hier jemand einen Makel zugezogen hat, dann war es die Rechtsprechung, deren Opfern wir jetzt nicht Rehabilitation, sondern Gerechtigkeit, Respekt und eine angemessene Entschädigung schulden.

Ganz und gar unbefriedigend ist darum die in §1 vorgesehene Regelung, anhand einer Aufzählung einen bestimmten Bereich auf Antrag kassationsrangiger Urteile zu konstatieren, auch wenn laut §7 Abs. 1 der Antrag vom Staatsanwalt gestellt werden kann. Das analoge CSFR- Gesetz vom 23. April 1990 weist hier den richtigen Weg, indem es Gerichtsentscheidungen — ich zitiere —, „die im Widerspruch zu den Prinzipien einer demokratischen, die bürgerlichen und politischen Rechte und Freiheiten respektierenden Gesellschaft stehen“, generell aufhebt und ausdrücklich hinzufügt, daß in dieser Gerichtspraxis, wie sie eben zitiert wurde, gegen geltendes Recht, nämlich die allgemeinen Menschenrechtserklärungen und an sie anschließende völkerrechtliche Abkommen, verstoßen worden sei.

Eine solche Philosophie des Herangehens an das SED-Unrecht würde viel deutlicher als bisher dazu zwingen, von einer Bringschuld des Staates und auch von der vorrangigen Verbindlichkeit des Bundes, und zwar auch der finanziellen, auszugehen und ihn z.B. auch für völkerrechtliche Weiterungen der fälligen Unrechtsbereinigungen, etwa gegenüber der Sowjetunion und deren Militärgerichten nach 1945, auf die ja hingewiesen worden ist, verantwortlich zu machen. Wir meinen, dafür eintreten zu müssen, daß der Entschädigung der Stalinismus- und SED-Opfer auch bei der Bemessung des finanziellen Rahmens eine deutliche Priorität gegenüber anderern Entschädigungsansprüchen eingeräumt wird. Sollen für die Entschädigung wegen der Enteignung von Grundstücken, Häusern und Gewerbebetrieben mehrere Milliarden zur Verfügung gestellt werden, für die Opfer, denen ganze Biographien zerstört worden sind, nicht einmal zwei Milliarden?

Auch wenn die juristischen Schwierigkeiten noch so groß sind: Parlament und Regierung sollten alles daransetzen, dem Entwurf des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes bald, d.h. spätestens bis zum 1. Mai 1992, Initiativen zur beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung folgen zu lassen. Auf das Problem hinsichtlich der Zwangsausgesiedelten hat bereits der Herr Justizminister hingewiesen. Ich habe heute früh noch eine dringende Petition der Frauen auf den Tisch bekommen, die von der Sowjetarmee unmittelbar nach Kriegsende in die Sowjetunion verschleppt und dann in die ehemalige DDR entlassen worden sind. Sie durften über das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, nicht einmal reden. Auch an sie müssen wir in diesem Zusammenhang erinnern und unsere Verpflichtung ihnen gegenüber anerkennen.

Die Opfer müssen angehört werden

In diesem Zusammenhang sei auf II Ziffer 2 des Antrages der Gruppe Bündnis 90/Grüne verwiesen, auf den Gedanken an eine Stiftung für alle Opfer der SED-Willkür. Hier könnten sich eine Entlastung für juristisch schwer lösbare Einzelfälle und ein Weg ausgleichender Gerechtigkeit abzeichnen.

Keinesfalls aber sollte bei der Behandlung dieser menschlich so schwerwiegenden Sachverhalte beim parlamentarischen Beratungsverfahren auf eine angemessene Anhörung von Betroffenen und Sachverständigen verzichtet werden. Unrechtsbereinigung wird nur gelingen, wenn sie gemeinsam mit denen angegangen wird, die die Erfahrung des Unrechts erlitten haben. Wolfgang Ullmann

Der Autor ist MdB und Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Die Rede vor dem Bonner Parlament hielt er gestern anläßlich der 1. Lesung des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes