Lebensläufe, Umwege

■ »Du mußt dein Leben ändern« von Helga Hegewisch

Der Mensch, der schon als vierjähriges Bübchen Doktor spielte und dann mit vierundfünfzig den Nobelpreis für Physiologie zugesprochen bekommt, ist natürlich etwas ganz Wunderbares, tief berühren muß er uns deshalb noch längst nicht. Jener Pariser Bankangestellte jedoch, der eines Tages Frau und Kinder sitzen ließ, um sich malend nach Tahiti zurückzuziehen, wo er schließlich an Syphilis und Trunksucht starb — dieser Mensch Paul Gauguin versetzt uns in tiefe Aufregung.«

Wohl zu keiner Zeit war die Sehnsucht nach Lebensveränderung, nach Vielfalt an Lebensentwürfen so stark wie heute. Nimmt man die Verbreitung und Intensität des Wunsches, ein(e) andere(r) zu werden, als Ausmaß der in einer Gesellschaft vorhandenen Unzufriedenheit mit dem momentanen Zustand — dann muß das Mißbehagen zur Zeit recht groß sein.

Noch nie war die Anzahl theoretisch möglicher Lebensläufe so groß wie jetzt. Dadurch breitet sich zunehmend die Illusion aus, das alte Ich beliebig abstreifen zu können, wenn es einem nicht mehr paßt, und gegen ein neues einzutauschen. Vorherrschend ist der Glaube ans anything goes — mit der unausgesprochenen Annahme, das Gute am Neuen ließe sich haben ohne das Schlechte, der Gewinn sei möglich ohne einen Verlust.

Die von Helga Hegewisch Portraitierten dagegen sind keine gelangweilten Wohlstandsbürger, die im Kaufhaus des Lebens nach dem immer größeren Glück Ausschau hielten. Der einzig gemeinsame Nenner aller Geschichten ist die Flucht aus einem unhaltbar gewordenen Zustand. Dabei beschreibt die Autorin auch spektakuläre Wandlungen: Ein Pornohändler wird Evangelist, eine Fernsehreporterin Landärztin, ein Wirtschaftskapitän wandelt sich zum Ökopropheten. Und natürlich fehlt auch in ihrer Sammlung nicht der Paradeumsteiger Karl-Heinz Böhm. Doch die publicityträchtigen Fälle sind zugleich die weniger interessanten.

Bewegender sind die Portraits einiger unbekannter Lebensveränderer. Bewegend, weil ihr Schicksal weiterhin widersprüchlich bleibt, die Risse in der Persönlichkeit nicht zugekittet sind und weil klar wird, daß auch nach der Wandlung zum Besseren das alte Schlechte nicht einfach weg ist.

Zum Beispiel »Herr Liebermann«. Eigentlich schon seit vier Jahren ein Toter, wie er der Autorin nicht ohne Koketterie erzählt. Damals hatten Ärzte bei ihm ein lebensgefährliches Blutgerinnsel festgestellt und ihn mit der wenig verlockenden Alternative konfrontiert: sofortige Operation mit der Folge dauernder Impotenz oder baldiger Tod durch Verbluten.

Herr Liebermann entscheidet sich gegen den »Eingriff« und für ein intensiveres, riskantes Leben. Und »Leben« bedeutet für ihn vor allem Sexualität. Seitdem liegt die Kondom- Großpackung neben dem Patiententestament — Liebermann wird zum späten Sex-Anarcho, der die vielen »kleinen Tode« anscheinend trotz oder wegen dauernder Todesgefahr extrem genießt.

Doch das ist nur eine Seite der Medaille: Mitten im Gespräch mit der Autorin bricht der sarkastische Bonvivant in Tränen aus und läßt hinter der Fassade des fröhlichen Anarchismus die Verzweiflung darüber hervorscheinen, es im bürgerlichen Sinne eigentlich »zu nichts gebracht« zu haben. Und so herrscht bei manchen Lebensveränderern nicht die Euphorie, sondern eher eine Mischung aus Hoffnung und Skepsis vor.

Bei der ehemaligen Prostituierten Monika etwa, die sich zwar vom Zuhälterfreund befreite und ihr Gewerbe aufgab, aber auch als »anständige« Versicherungsangestellte mit einer verbrauchten Gefühlswelt und einer beschädigten Sexualität weiterleben muß. Oder bei John, der zwar vom Alkohol loskam, nicht aber von den Schuldgefühlen gegenüber seiner Familie, die im übrigen mit dem Säufer besser zurechtkam als mit dem nunmehr trockenen Anonymen Alkoholiker.

Das Buch von Helga Hegewisch bietet nicht nur spannende Lebensläufe, es hat schließlich doch noch eine Art therapeutischen Effekt: Es macht nicht nur Mut zur Veränderung, sondern auch bescheidener im modisch-schnellen Wandel der Identitäten und skeptisch gegenüber allzu flotten Glücksversprechen. Peter Tomuscheit

Helga Hegewisch: Du mußt dein Leben ändern — Chancen des Neubeginns.

rororo-Sachbuch, 12,80 DM