Naßkalte Hölle

■ Auguste Chabaud, Fauvist auf dem Lande, fast vergessen, wiederentdeckt in Bochum

Wer bislang glaubte, die Öffnung der mitteleuropäischen Grenzen käme nur wirtschaftlichen Interessen entgegen, irrte. Nationales Kulturerbe wird zunehmend international nachgefragt, und deshalb verwundert es nicht, daß ein hierzulande unbekannter französischer Maler 36 Jahre nach seinem Ableben die Reisefreiheit des Schengener Abkommens genießen kann, um mit einer kleinen Werkschau neues Publikum für sich zu gewinnen. Erstaunlicherweise findet sie in der Bochumer Galerie m statt, die erstmals von ihrem Pfad abweicht, knackend trockene Moderne zu vertreten.

Es liegt nicht an der Güte seiner Bilder, daß Auguste Chabaud bislang nur wenig beachtet wurde — auch in Frankreich, wo er fast ausschließlich in der Provinz vorgestellt wurde. Eher erklärt seine Biographie diese zurückhaltende Rezeption. Chabaud, 1882 in Nimes geboren, studierte in Avignon und Paris, kehrte zunächst in die Provence zurück und ließ sich 1906 in Paris nieder. Dort gehörte er zu den Fauvisten, an deren Ausstellungen er sich beteiligte und deren Bohemien- Dasein er teilte.

Er malte, was er sah, war passionierter Straßenmaler — Maler des Lebens auf der Straße und in der Stadt. Der frivole Geschmack der Pariser Künstlerszene war ihm nicht fremd, und er bereicherte die Bilderwelt um Hurenbildnisse und Frauenakte schockweise. Am meisten schien er den Rückenakt mit gehobenem Arm zu lieben, bei dem regelmäßig die Hände der Frau ihr üppiges, hochgestecktes Haarkleid betastet. Ästhetische wie erotische Dutzendware wurde da produziert, die den gelangweilten Blick des Künstlers auf sein Fleischobjekt verraten und die Aktmalerei als sich selbst genügende Aktion enthüllen. Dieser Vorwurf trifft nicht Chabaud allein, doch fallen seine Gemälde und Studien dieses Genres gegenüber seinem übrigen Werk erheblich ab.

Glücklicherweise widmete er sich vorwiegend anderen Themen. Seine Pariser Stadtansichten verzichten auf touristische Merkmale wie auf das Metropolenfieber, das zu erwarten wäre. Chabaud interessierte die Tristesse in den Industriequartieren der Stadt. Eisenbahnbrücken verriegeln den Hinter- oder Mittelgrund. Dicker Qualm nebelt die wenigen Menschen ein, die in „Gare du Nord“ schemenhaft über das Trottoir einer Brücke gehen. Klein und vereinzelt heben sie sich kaum vom Umbra des Straßenbelags ab. Hinter ihnen sperrt sich ein hohes Gitter. Dahinter quillt der weiße Dampf einer nicht sichtbaren Lokomotive herauf; in der Ferne häßliche Mietskasernen und das Gerippe einer weiteren Brücke. Das von Grautönen dominierte Gemälde zeigt einen Stadtraum, in dem der Verkehr den Menschen behindert. Weit weg ist eine solche Ansicht von den duftigen Flanierszenen seiner Pariser Kollegen, auch von den Farbekstasen der deutschen Expressionisten. Aber sie unterscheidet sich auch von Edvard Munchs früherem Röntgenbild stadtbürgerlicher Seelen auf der „Karl-Johann-Straße“ und den grimmigen „Arbeitern auf dem Heimweg“ von 1910. In Munchs Gemälden füllen die Menschen den (städtischen) Raum aus. Chabaud präsentiert dagegen den öffentlichen Raum als naßkalte Hölle.

Lebendiger wirkt das ausgeweidete Karnickel (1912), das für einen Leichnam reichlich komisch aussieht, mit der weißen Blume zwischen blutigen Schenkeln und den bepelzten Läufen als Pantoffeln. Das Tier liegt in einem Interieur, das farblich und formal einfach und abstrakt ist.

Mit dem Leben in der Metropole war Chabaud nach wenigen Jahren unzufrieden. Zunächst pendelte er, genau wie die bereits erwähnten Künstlerkreise, zwischen Stadt und Land — sein Dangast hieß Graveson, der Hof seiner Großeltern. Nach dem Ersten Weltkrieg verließ er endgültig Paris. Bis zu seinem Tod blieb er im Midi, wenige Ausstellungen stellten die Verbindung her zu ihm, darunter eine in Berlin 1937 über „zeitgenössische französische Künstler“. In der Provence schuf Chabaud Arbeiten gänzlich anderen Charakters. Seine Malweise blieb zwar gleich: verhältnismäßig viele seiner Ölbilder sind auf dem billigeren Karton gemalt. Im Unterschied zur Leinwand leuchten die Farben weniger. Chabaud nutzte die ockerfarbene Grundtönung des Kartons in seiner Farbpalette. Dabei brauchte er den Bildträger nicht zu grundieren. Ocker ist schon materiell eine provencalische Farbe, dank ihrer Herkunft aus den dortigen Ockerbrüchen. In einigen Gemälden überwiegt die Farbe des leeren Kartons, und nur wenige farbige Konturen und Felder ergänzen das Bild zur Landschaft mit Haus, Baum und Wegen. Himmel, Hauswand und Boden sind ocker, zugleich ergibt sich ein grelles Licht, das jeden Winkel ausleuchtet. 1925 malte Chabaud die Nachmittagshitze in der Dorfstraße von „Villeneuve les Avignon“.

Halluzinatorisch, in Fischaugenperspektive, biegen sich die Häuser und Mauern der Mitte zu und rahmen den gedrückten Spitzbogen ein, der, kartonfarbig, die Straße darstellt. Vorne rechts gehen zwei Gestalten, denen der Weg endlos vorkommen muß, unter dem — nunmehr blauen — Himmel.

Anders als in Paris gefielen dem Maler in dieser Landschaft die pittoresken Ansichten, wie das Aquädukt bei Nimes. Seine Landschaften verfallen aber auch in seinen späteren Werken nicht der hausbackenen Spätwerkästhetik, wie sie von einigen Zeitgenossen, Erich Heckel zum Beispiel, bekannt ist. Sie balancieren zwischen Abstraktion und Symbolismus und lassen den Raum zur Geltung kommen, während er in anderen Tendenzen der modernen Malerei in der zweiten Dimension verebbt ist. Seltsamerweise geriet mit seinem Rückzug aufs Land Chabauds gesamtes Werk allmählich in Vergessenheit, als wollte die Metropolenkultur den verlorenen Jünger mit dem Vergessen strafen. So tragisch verlief die Geschichte allerdings nicht. Chabaud war offenbar vermögend genug, nicht vom Bilderverkauf leben zu müssen. Seine ErbInnen hüten Hunderte von Bildern. Sie halten mit ihnen vornehm hinterm Busch, nach dem Beispiel, das der Künstler ihnen gab. Für das Publikum war diese bislang bewiesene Selbstgenügsamkeit äußerst bedauerlich. Daher ist es desto erfreulicher zu vernehmen, daß 1993 eine umfangreiche Retrospektive in Saarbrücken, Wuppertal und im Münchener Lenbach-Haus gezeigt werden wird. Die Geschichte der modernen Kunst wird nicht neu geschrieben zu werden brauchen, aber sie wird bereichert.

Von Christoph Danelzik

Ausstellung Auguste Chabaud. Bilder, Skulpturen und Zeichnungen. Bochum, Galerie m. Bis Ende Januar (verlängert). Katalog 48 DM, Text in deutsch/englisch.