3,8 Millionen Slowaken beleidigt

■ Selbst der slowakische Nationalrat befaßte sich mit der blasphemischen Prosa von Martin Kasarda/ Redakteur und Autor müssen Verurteilung befürchten

Die heutige CSFR ist vom Zerfall bedroht, so zumindest die Tendenz der Berichte, die durch unsere Medienlandschaft geistern. Aus der Nähe besehen ergibt sich ein frappierend anderes Bild: Die überwiegende Mehrheit der Slowaken — und um die vor allem geht es — sieht keinen Grund zur Sezession und empfindet das Zusammenleben mit den Tschechen in einem gemeinsamen Staat als natürlich und — bei Sicherung der nationalen Identität — als fortsetzungswürdig. Ein Gegeneinander, wie wir es heute zwischen den Serben und Kroaten erleben, ist zwischen den beiden Staatsvölkern der Tschechoslowakei undenkbar. Dennoch wird, von wem auch immer, der Schein erweckt, als gebe es gegen die Gemeinsamkeiten triftige Gründe und zur definitiven Trennung keine Alternative.

Eines der Probleme ist der unterschiedliche Puls der Kulturen. Während die tschechische Kultur im wesentlichen säkularisiert ist und eine deutliche Mehrheit der Tschechen areligiös denkt (nur etwa 40 Prozent der Tschechen bekennen sich zu einer religiösen Bindung), bewegt sich die slowakische Kultur überall dort, wo sie westlichen Mustern folgt, hart am Rande eines Dissens mit dem eigenen Volk, das mehrheitlich christlich, vor allem katholisch organisiert ist (über 75 Prozent der Slowaken bekennen sich zum Christentum). Dieser Dissens kommt freilich erst dann zum Tragen, wenn er zum Politikum wird — etwa, wenn er der „Neuevangelisation Europas“, wie sie Papst Johannes Paul II. vorschwebt, und den Politikern, die sie in die Tat umsetzen wollen, in die Quere kommt. Wie anders wäre die heftige Reaktion einiger katholischer Abgeordneter des slowakischen Nationalrats und des slowakischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Christdemokratischen Bewegung, Jan Čarnogurský, zu begreifen, die der Veröffentlichung einer blasphemischen Prosa des jungen slowakischen Autors Martin Kasarda folgte. Die literarische Wochenschrift 'Kulturný život‘, die den Text am 5.8. 1991 gebracht hat, ist vom Ministerpräsidenten Čarnogurský umgehend mit dem finanziellen Bann bestraft und von jeglicher Subventionierung durch den Staat ausgeschlossen worden.

Aber es kam noch besser: Der Chefredakteur der Zeitschrift und der junge Autor wurden offiziell verhört und müssen eine Verurteilung nach Paragraph 198 des tschechoslowakischen Strafgesetzbuches (Verunglimpfung der Rasse, der Nation und des Glaubens) befürchten. Die nebenstehende Erzählung nämlich, so der Vorwurf, „beleidige in gröbster Weise nicht nur die Gefühle der sich zum Christentum bekennenden 3,8 Millionen Einwohner der Slowakei, sondern auch die aller anderen Christen, insbesondere in Europa“. Vor allem aber fürchte man den verderblichen Einfluß auf die Jugend, denn diese befinde sich ja erst auf dem Weg zum Glauben.

Auch den Schierlingsbecher bekam der Autor bereits vorab, wenn auch zunächst nur verbal durch die einschlägige Presse: „So ein Mensch (gemeint ist Martin Kasarda; P. S.) ist entweder ein Tier, vor welches Perlen geworfen wurden, oder seine Seele ist von satanischen Kräften ergriffen...“ Man kann sich des Gedankens an das Schicksal Salman Rushdies kaum erwehren. Was aber, so die Prager Tageszeitung 'Lidové noviny‘, „wenn sich die Welt fragen müßte, wer der slowakische Khomeini ist?“ Peter Sacher