DEBATTE
: Gezinkte Karten?

■ In Maastricht ist mehr Ende als Anfang

Noch ist der Gipfel in Maasstricht nicht gescheitert; in der Politik sollte man Wunder niemals ausschließen. Aber die Experten sind sich schon sicher: Eine Politische Union Europas wird es für diesmal nicht geben. Dies aber bedeutet: in einer nicht mehr bipolaren, sondern multipolaren Welt, in der sich die Akteure blitzschnell vervielfacht haben, wird es kein europäisches Gravitationszentrum geben. Also kein Europäisches Parlament mit normalen Parlamentsrechten; keine gemeinsame Außenpolitik, sondern die Fortführung der Satyr-Spiele, die wir am Golf und in Jugoslawien aufgeführt haben — und die Vorform einer europäischen Zentralbank, dafür aber keine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Die deutsche Bundesregierung wird ihre Hände in Unschuld waschen. Wir, die Deutschen, wird sie sagen, haben die Wirtschafts- und Währungsunion von Entscheidungen für eine Politische Union abhängig gemacht. Aber die Engländer sind ja unfähig, ihr Herz über die Hürde zu werfen. Die Franzosen haben eben ein Präsidialsystem; sie können sich echte Zuständigkeiten für das Europäische Parlament nicht vorstellen. Wir, die Deutschen, sind die Mustereuropäer. Wir sind nicht schuld, wenn Europa jetzt stagniert.

Diese Argumentation ist fragwürdig. Vielleicht ist es zu scharf, wenn manche Diplomaten unserer westlichen Verbündeten sagen: Die Deutschen haben mit gezinkten Karten gespielt. In jedem Fall waren sie allzu umtriebig, wenig systematisch und gelegentlich auf einfältige Weise bauernschlau. So konnte ein tollkühnes Unternehmen, das höchste Konzentration verlangt hätte, nicht erfolgreich zu Ende gebracht werden.

— So verfolgte die deutsche Politik allzuviele Projekte gleichzeitig. Außenminister Genscher mußte vor dem Europa-Ausschuß des Bundestages offen einräumen, daß man den Vorschlägen der niederländischen Präsidentschaft zur Verstärkung der Parlamentsrechte nicht zustimmen konnte, weil man damit ja die Franzosen dupiert hätte; mit denen aber verfolgte man gerade den grandiosen Plan eines gemeinsamen Armeekorps. Warum gefährdete man die entscheidende Frage der Demokratisierung der Gemeinschaft durch ein symbolisches Projekt?

— Die Deutschen waren auch nicht konsistent. Einerseits behaupteten sie, Schulter an Schulter mit den Franzosen für die Politische Union zu kämpfen. Andererseits gingen sie — bei der Osterweiterung der Gemeinschaft — auf die englische Linie. Aber John Major will die EG rasch erweitern, um sie nie vertiefen zu müssen. Ist eine Regierung seriös, die gleichzeitig englisch und französisch zu sprechen versucht?

— Wer das Projekt verfolgt, zwölf unterschiedliche Länder dazu zu überreden, ihre Eigenständigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik einzuschränken und Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, sollte im unmittelbaren Vorfeld dieser Entscheidung sehr kompromißfähig sein. Die Deutschen exerzierten das Gegenteil. Bei der Anerkennung Kroatiens taten sie sich mit Österreich zusammen, das noch außerhalb der Gemeinschaft steht und konterkarierten die vorsichtige Linie von Engländern und Franzosen.

Obwohl niemand, der etwas vom serbisch-kroatischen Konflikt versteht, glaubt, daß mit einer diplomatischen Anerkennung Kroatiens die Probleme gelöst seien, trugen die Deutschen unter lauten Trommelwirbeln diese Standarte vor sich her. War das ein tauglicher Versuch, die selbstbewußten Franzosen und Engländer zu beruhigen?

Es wäre sicher falsch, der deutschen Politik schlicht Täuschungsabsicht zu unterstellen. Kohl ist kein Deutschnationaler, sondern ein regionalistisch verwurzelter Europäer. Aber er ist eben auch kein konzeptioneller Kopf, sondern ein osmotisches System. Er spürt, daß in seinem Land — besonders in seiner Partei — die Nationalstaatler immer mehr aufkommen. Die Ratgeber flüstern: Im Neuformierungsprozeß Europas müssen wir die Hände frei behalten. Osteuropa wartet auf uns; wir dürfen uns unseren Handlungsspielraum von Franzosen, Engländern und den Niederländern nicht allzu sehr einschränken lassen. Das Ergebnis dieser scheinbaren Rafinesse ist das Scheitern in Maastricht.

Wer die Lage jetzt klar analysieren will, darf sich von den beruhigenden Gesten unserer Spitzendiplomaten nicht verwirren lassen. Die sagen in gespielter Gelassenheit: Europa hat sich immer in Fünfjahresperioden entwickelt — fünf Jahre gesteigerte Aktivität, fünf Jahre Stagnation. Was wir 1991 nicht erreichen, erreichen wir 1996. Keine Aufregung.

Bis 1989 war dies eine korrekte Beschreibung der europäischen Entwicklung. Die mitteleuropäische Revolution hat die Lage mit einem Schlag verändert. Was sich in Maastricht nicht durchsetzen läßt, wird 1996 schon gar keine Chance haben, und zwar aus sehr deutschen Gründen. In Deutschland wächst nämlich in nahezu allen Lagern die nationalstaatliche Denkschule. Maastricht ist kein Anfang; Maastricht ist ein Ende. Was möglich bleibt, ist eine Europäische Freihandelszone, ein Europa der verflochtenen Nationalstaaten. Die Idee eines europäischen Bundesstaates wird man im Ordner „gescheiterte Utopien“ abheften müssen. Peter Glotz

Der Autor ist Vorstands-Mitglied der SPD und einer der Vordenker seiner Partei.