„Wo Heere lagern, gehen Disteln und Dornen auf“

50 Jahre nach Pearl Harbor wissen weder die USA noch Japan, wie sich der Frieden über dem Pazifik langfristig bewahren läßt  ■ Aus Tokio Georg Blume

Die Japaner verhielten sich wie immer zurückhaltender, doch von Amerika tönte es in die Welt: „Japan“, schwärmte George Bush am Montag, „steht als Verbündeter und Freund hinter keinem Zweiten zurück.“ US-Verteidigungsminister Dick Cheney setzte hinzu: „Nirgenwdo ist die Verteidigungskooperation wichtiger als zwischen den USA und Japan.“ Dem wollte auch James Baker in nichts nachstehen: Das Verhältnis zu Japan definierte der US-Außenminister kurz und klar als die „wichtigste bilaterale Beziehung“ der USA.

Doch wo von soviel Lob und Preis die Rede ist, können die Probleme nicht weit entfernt liegen. Von den Politikern verschwiegen, von den Strategen heruntergespielt und von den Völkern unbemerkt hat sich ein angsterregendes Gespenst über den Küsten des Pazifiks niedergelassen. Die Südkoreaner nennen es entweder „japanisches Offensivpotential“ oder „chinesische Bedrohung“, die Japaner bleiben beim vagen Begriff des „strategischen Vakuums“, doch für die meisten hat das Gespenst noch gar keinen Namen.

Stattdessen gibt es nur Fragen: Wo stehen Asiens künftige Armeen? Wer baut Asiens modernste Atombomben? Wer hat den Schutz der USA, und wer hat ihn nicht? Die ungeheuerliche Verunsicherung, der sich heute die asiatischen Militärs ausgesetzt fühlen, nährt sich aus einem Virus, dessen Existenz die Herrschaftshäuser des Fernen Ostens bisher hartnäckig leugneten: Es ist der Virus der „neuen Weltordnung“ — das sind die Worte George Bushs.

Gegen diesen Virus nämlich, der in Europa bereits die alten Sicherheitsbündnisse gesprengt hat, galt Asien bislang als immun. „Asien ist nicht Europa,“ lautete die standardisierte Antwort von Washington über Tokio bis Peking, als idealistische Vordenker wie Eduard Schewardnadse oder Michail Gorbatschow während der letzten Jahre neue Sicherheitsabsprachen für den pazifischen Raum forderten. Sie klagten ein asiatisches Helsinki ein, eine KSZE-Konferenz für den Pazifik, doch die fernöstlichen Hauptstädte ignorierten dieses Ansinnen.

Nun aber taucht im Schein alter Erinnerungen an die Welthistorie von Pearl Harbor schlaglichtartig auf, was Asiens Zukunft sicherheitspolitisch verspricht: Erbitterte Rivalitäten unter den Vormächten, strategisches Chaos, Unterjochung der Schwachen. Schon morgen könnte zur Gefahr werden, was gestern und heute nicht versöhnt und verflochten wurde.

Unter dem fortgerissenen Schleier des Kalten Krieges taucht nämlich in Asien wieder die alte sicherheitspolitische Landschaft kolonialistischer Prägung auf. Ob es die Philippinen, Südkorea oder Japan sind, ihre militärstrategische Rolle im Verhältniß zu den USA gleicht der von Vasallenstaaten. Seine Asien- Strategie beschrieb Dick Cheney in Tokio kürzlich so: „Unsere asiatische Sicherheitspolitik beruht auf einem starken System bilateraler Sicherheitsarrangements.“ Das aber meint nichts anderes, als daß die USA ihre Partnerländer in Asien auf bilateralem Wege verteidigungspolitisch dominieren, während sie damit seit über 40 Jahren verhindern, daß unter den einzelnen asiatischen Staaten, ob sie nun Verbündete der USA sind oder nicht, vertrauensschaffende sicherheitspolitische Maßnahmen getroffen werden.

Versteckte militärische Feindseligkeiten

So rüstet im Schatten des Siegers jeder gegen jeden hoch: Japan gegen China, China gegen Vietnam, Vietnam gegen Thailand, Thailand gegen Indonesien, Indonesien gegen Malaysia — hin- und zurück und allseits austauschbar ließe sich die Liste versteckter militärischer Feindseligkeiten in Asien beliebig fortsetzen. Wie weit das Mißtrauen geht, dokumentiert das neue südkoreanische Verteidigungsweißbuch: Dort wirft man nun auch Japan ein „offensives Potential“ vor und erklärt es mithin zum denkbaren Feindesland. Nicht einmal zwischen ihren engsten Verbündeten im Pazifik, zwischen Südkorea und Japan, haben die USA bis heute eine Vertrauensatmosphäre geschaffen. „Divide et impera!“ heißt immer noch ihr im Globalzeitalter längst veraltetes Herrschaftsprinzip.

So sind es nach Ende des Kalten Krieges eben nicht mehr die gegenseitigen ideologischen Vorbehalte, sondern die bilateralen Abmachungen der USA, die jeden Ansatz multilateraler Sicherheitspolitik in Asien verhindern. Bollwerk dieser einseitigen Militärstrategie im Pazifik ist die Achse Washington-Tokio auf der Basis des US-japanischen Sicherheitsvertrages von 1960. Grundlage dieses Vertrages war zweifellos die gemeinsame sowjetische Bedrohung. Die USA gewährten Japan deshalb den äußeren, nuklearen Schutzschild. Trotz der Veränderungen in Moskau und trotz des anlaufenden Rückzugsplans für zehn Prozent der in Asien stationierten US- Soldaten blieb das US-japanische Abkommen für beide Regierungen bis heute unantastbar.

Doch die Partner von 1960 erreichten noch ein zweites Ziel: „Das US-japanische Abkommen“, analysiert der japanische Ökonom Kenichi Ohmae, „hat es Japan verwehrt, seine diplomatische Unabhängigkeit wiederzuerlangen.“ Die Unabhängigkeit brauchte Japan solange nicht, wie es dem Land nur darum ging, Moskau die Stirn zu bieten. Doch für die komplizierten Sicherheitsbeziehungen der neunziger Jahre beschreibt Strategieprofessor Yoshikazu Sakamoto das neue Dilemma Japans und ganz Asiens: „Ausländische Nationen,“ hebt der hochgeachtete Militärexperte an, „besonders die ostasiatischen Nationen, haben von dem US-japanischen Sicherheitsvertrag immer erwartet, daß er die Entwicklung eines japanischen Militarismus verhindert. Doch mit dieser Logik läßt sich der Vertrag in Japan nicht vertreten. Wenn wir dieses Ziel akzeptieren, geben wir zu, daß Japan ein unreifes Land ist, dem nur mit der Garantie der Vereinigten Staaten zu trauen ist. Deshalb müssen wir den Vertrag heute kritisieren und selbständig und freiwillig auf die Beilegung internationaler Konfrontationen hinwirken.“

Sakamotos Überlegungen geben unmittelbaren Aufschluß darüber, wieweit der Virus der weltpolitischen Veränderungen heute bereits in die kühlsten Köpfe Asiens eingedrungen ist. 50 Jahre nach Pearl Harbor wackelt das sicherheitspolitische Fundament Asiens.

Zum ersten Mal seit 15 Jahren werden japanische Firmen in diesem Jahr mehr Waren in asiatische Nachbarländer als in die USA exportieren. Mit dem Heranreifen der „vier Tiger“ (Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur) und dem wirtschaftlichen Erwachen Thailands, Indonesiens und Malaysias sinkt die strukturelle Abhängigkeit aller Pazifikstaaten vom bisher wichtigsten Handelspartner, den USA. Der Widerspruch der asiatischen Verhältnisse aber liegt in den florierenden Wirtschaftsbeziehungen aller Länder untereinander, denen das sicherheitspolitische Vertrauen dennoch fehlt.

Leichtfertig wäre es da, aufgrund der allseitigen Freude am derzeitigen Handelsgeschäft das militärische Risiko für die Zukunft auszuschließen. Warum denn verfügt Japan über den drittgrößten Militärhaushalt der Welt und ist auch heute nicht zu einschneidenden Kürzungen bereit? „Wo Heere lagern,“ weissagte Chinas Laotse vor zweitausend Jahren, „gehen Disteln und Dornen auf.“ Auch sagte uns Laotse, was Asien braucht in dieser Not: „Wer tüchtig ist, Anführer zu sein,“ versprach der Staatsphilosoph, „ist nicht kriegslustig.“ Damit aber läßt Loatse erkennen: Für den Frieden in Asien ist heute niemand tüchtig genug.