ESSAY
: Wir sind kein Volk

■ Warum der EG-Gipfel in Maastricht scheitern wird

Entweder es wird, oder es wird furchtbar — wenn Maastricht scheitert, droht eine europäische Katastrophe. Mit diesem Tenor sind in den letzten Tagen fast alle Politiker, die innerhalb der EG- Staaten Rang und Namen haben, an die Öffentlichkeit getreten und mußten dabei ein erstaunliches Phänomen zur Kenntnis nehmen: Allen Kassandrarufen zum Trotz blieb „das Volk“ — und nicht nur in Deutschland — seltsam gelassen, nahezu unberührt. Offenbar schreckt nicht eine drohende Katastrophe in Europa, sondern allenfalls die Umwandlung der D-Mark in den Ecu. Warum ist das so?

Die Antwort darauf ist nur scheinbar simpel. Es gibt keine europäische Identität, und es ist fraglich, ob es überhaupt den Wunsch gibt, eine solche zu entwickeln. Europa ist zum einen eine Ansammlung an Ungleichzeitigkeiten und zum anderen ein bürokratischer Prozeß. Beides reicht nicht aus, um die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen und wird aller Voraussicht auch nicht dazu ausreichen, ab heute im niederländischen Maastricht einen „irreversiblen Prozeß“ (Helmut Kohl) in Richtung politische Union in Gang zu setzen. Warum klappt aber nicht, was doch so vernünftig ist und eigentlich jeder einsehen könnte? Bei der Analyse des Scheiterns sollten wir beginnen, etwas grundsätzlicher zu fragen.

Fragen wir einmal nicht nach den Gründen, warum Major zur Zeit gegen eine europäische Verteidigungsunion votiert und Mehrheitsbeschlüsse überhaupt ablehnt, warum Griechenland noch nicht reif ist für eine gemeinsame europäische Währung oder warum Mitterrand seinem Helmut vielleicht doch nicht über den Weg traut, fragen wir doch einmal viel direkter: Für wie viele Leute innerhalb dieses Europas — bleiben wir zunächst einmal innerhalb EG- Europa — ist die Vorstellung naheliegend, demnächst von Berlin nach Lissabon umzuziehen oder sein französisches Kleinstädtchen mit einem niederländischen zu tauschen? Nicht für einen kürzeren Aufenthalt wohlgemerkt, sondern auf Dauer. Weil einem die andere Stadt besser gefällt, Wohnungen billiger sind oder die Aussicht auf einen Job vielleicht größer ist. Sicher, es gibt solche Exoten— aber sie sind an einer Hand abzuzählen angesichts der Millionen, für die eine solche Vorstellung völlig jenseits des Denkbaren ist.

Europa ist eine Chiffre

Was also ist Europa — immer noch EG-Europa — für die breite Masse seiner potentiellen Bürger? Europa ist eine Chiffre für einen bürokratischen Prozeß. Europa bedeutet unverständliche Sitzungsrituale, einen Haufen Bauern, die sich über diese Sitzungen erregen, und dann ist auch schon fast Schluß. Dies ist bislang die emotionale Grundlage der Vereinigten Staaten von Europa, und deshalb wird Maastricht scheitern und eine politische Union mindestens jetzt nicht beschlossen werden.

Schuld daran aber sind nicht die Menschen, die zu blöd wären zu verstehen, wie wichtig Europa doch sei; schuld daran sind die sogenannten Gründungsväter der europäischen Union und ihre Enkel. Europa ist das letzte Refugium Metternichscher Kabinettspolitik. Die Menschen in Europa sind statistische Größen, der Gedanke der demokratischen Partizipation wurde durch das europäische Parlament geradezu verunglimpft, die Gesetzes- und Verordnungsmaschine läuft unter Ausschluß der Öffentlichkeit. So sehr Kohl, Delors, Lubbers und Mitterrand nun auch schreien: für die Fortsetzung dieses bürokratischen Prozesses wird sich in Europa kein Engagement finden, setzt jedes Europacup-Fußballspiel mehr Emotionen frei als das drohende Scheitern von Maastricht.

Das Tragische ist nur: Kohl hat trotzdem recht. Ein Scheitern von Maastricht, ein Abschied vom Ziel einer politischen Union, sprich: den Vereinigten Staaten von Europa, wäre eine Katastrophe.

Eine Addition von Ethnien

Es gab Zeiten, da konnte man über diese Behauptung noch trefflich streiten. Was soll uns ein Europa des Kapitals bringen, hat die Linke über Jahre argumentiert — im einzelnen durchaus zu Recht. Europa drohte soziale Verschlechterungen zu bringen, eine Harmonisierung des Asylrechts bedeutet nach wie vor eine Nivellierung nach unten, und auch im Ökologiebereich droht nach wie vor europäische Ignoranz. Die entscheidende Frage blieb jedoch auch von der Linken weitgehend unbeachtet: Wie soll sich in Europa denn der Wille des Souveräns, des europäischen Volkes, eigentlich herstellen? Wo ist das europäische Volk, wo die europäische öffentliche Meinung?

Noch gibt es nur Spanier, Griechen, Flamen, Wallonen, Franzosen, Dänen, Deutsche, usw. Jeder weiß, das die Addition dieser Völker und Ethnien nicht automatisch ein europäisches Volk ergibt. Bestes Beispiel dafür ist die gewesene Sowjetunion. Auch 70 Jahre erzwungener Addition unterschiedlicher Völker hat daraus nicht das Volk der Sowjetunion entstehen lassen. Gleichzeitig hat der in der Ex-UdSSR und Osteuropa fröhliche Urständ feiernde Nationalismus klargemacht, welch existentielle Frage die politische Union tatsächlich ist.

Um den Frieden in Europa zu erreichen und zu sichern, brauchen wir die Vereinigten Staaten von Europa. Auf Dauer gibt es keine andere Garantie für eine friedliche Konfliktregelung als den freiwilligen und gewollten Zusammenschluß. Man kann von den USA halten, was man will, die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Texas und Arizona tendiert gegen Null. Scheitert die politische Union, die zumindest in einem Kernbereich des jetzigen EG- Europas als erster Schritt bald durchgesetzt werden muß, droht Europa ein Rückfall in die Bündnispolitik des 19. Jahrhunderts.

Gerade weil die Vereinigten Staaten von Europa so existentiell wichtig sind, ist es vielleicht gut, wenn Maastricht scheitert. Die Vereinigten Staaten von Europa als geheime Kabinettssache wird es nicht geben. Der Stil der bisherigen Europapolitik hat gereicht, um eine Freihandelszone zu schaffen. Für ein gemeinsames Europa braucht es mehr und vor allem einen anderen Weg. Gebraucht werden die zukünftigen Europäer, muß die Idee Europa aus der Beschlußvorlage der Brüsseler Kommission hinaus in die Köpfe der Menschen.

Dazu gehört vor allem ein Schritt: Diejenigen, die eine politische Union wollen, einen gemeinsamen Staat anstreben, brauchen erst einmal eine gemeinsame Sprache. Der Grund, warum heute Europa kaum jemanden bewegt, ist, daß die Akteure der zukünftigen Vereinigten Staaten von Europa mehr Zeit für die Harmonisierung der DIN-Normen aufbringen, als sich zu überlegen, wie sie die Bürger Europas für ihren zukünftigen Staat gewinnen wollen. Für die Einbindung der Menschen in einen europäischen Einigungsprozeß reicht es nicht, über eine Parlamentsreform in Straßburg zu reden. Erst einmal muß es einen öffentlichen Raum geben, in dem diskutiert und gestritten werden kann.

Sprache als Symbol

Sicher, es ist wichtig, Währungen kompatibel zu machen und letztlich eine gemeinsame europäische Währung zu schaffen. Der nächste Schritt aber ist die Kompatibilität der Kommunikation. Europa muß sich über seine Sprache, seine Sprachen verständigen. Bislang gibt es keine europäischen Massenmedien, die einen öffentlichen Raum herstellen können, in dem sich eine öffentliche europäische Meinung bildet. Ohne eine gemeinsame Sprache wird dies schwierig bleiben.

Politik lebt auch von Symbolen. Die Frage der Sprache ist ein politisches Symbol, das die Menschen in der zukünftigen europäischen Union in Bewegung bringen würde. Eine Volksabstimmung über die zukünftige Amtssprache der politischen Union Europas wäre eine Möglichkeit, die Menschen am Prozeß der politischen Union zu beteiligen und gleichzeitig einen öffentlichen Kommunikationsraum herzustellen. Denn: Ohne eine europäische Diskussion keine europäische Demokratie und folglich kein europäisches Parlament. Ohne das aber kann es keine politische Union geben. Jürgen Gottschlich