Die bosnische Zwickmühle

■ Es heißt, Bosnien und Herzegowina seien wie der Vielvölkerstaat Jugoslawien — nur eben en miniature. Derweil Jugoslawien unter dröhnendem Kanonendonner zerfällt, sehen sich die drei Völker in Sarajevo vor einem entbehrungsreichen Winter. Ob es auch kriegerischer werden wird, weiß niemand. Daß das Chaos regiert, ist dagegen offensichtlich. Und auch, daß Mißtrauen in die Köpfe gekrochen ist. VON GERD SCHUMANN

Es heißt, Bosnien und Herzegowina seien wie der Vielvölkerstaat Jugoslawien — nur eben en miniature. Derweil Jugoslawien unter dröhnendem Kanonendonner zerfällt, sehen sich die drei Völker in Sarajevo vor einem entbehrungsreichen Winter. Ob es auch ein kriegerischer werden wird, weiß niemand. Daß das Chaos regiert, ist dagegen offensichtlich. Und auch, daß Mißtrauen in die Köpfe gekrochen ist.

Sarajevo. Am Rand der Bas-Carsija, dem altehrwürdigen Marktviertel, dessen Gassen und Gäßchen, vom Minarett der mächtigen Havdza-Durak-Moschee aus betrachtet, einem eng gewobenen Spinnennetz gleichen, flüstern und wispern dick vermummte Männer „Devisa, Devisa“. Meist vergeblich, denn TouristInnen kommen schon längst nicht mehr. Auch hundert Meter weiter, wo sich vor dem Hotel Europa ein Pulk von Menschen drängt, wird die neue Spezialware gehandelt: Geld. Dinare. Bloß abstoßen, ehe sie gar nichts mehr wert sind.

Drinnen im hochdeckigen, stuckverzierten Café mit seinen dicken Samtvorhängen und plüschig-bequemen Sofas bedient ein rotnäsiger Kellner unter Extrembedingungen. Ab und zu verschwindet er kurz hinter der Theke, um seine steifen Finger unter warmem Abwaschwasser aufzutauen. Gegen den bläulich- blassen Teint kann er nichts unternehmen: Wie das Nachbarhotel „Zentral“ bleiben das „Europa“ und Tausende Fertigbauwohnblocks unangenehm kalt. Ölmangel. Menschen frieren in ihren Wohnungen oder Autos, die sich vor trockengelegten Zapfsäulen kilometerweit und in Doppelreihen stauen, in Belgrad seit zwölf, in Sarajevo seit 20 Tagen.

Warterei und Kälte zermürben, und die ortsüblichen Drei-Tage- Stoppeln in männlich-herben Gesichtern sind längst zu Bärten gewachsen. Waschen und Rasur bei Null-Temperaturen kosten Überwindung. Zudem werden Kosmetika knapp. Die sonst aus Slovenien gelieferten Parfums und Cremes und Pasten und Seifen bleiben aus. Mancher läßt sich gehen, weicht dem Druck der elenden Verhältnisse und beginnt, unfein zu riechen.

Auch Medikamente fehlen. Zum Beispiel Zenica. „Wir müssen unsere Reserven angreifen“, sagt Oberbürgermeister Ibrahim Alispahic, ein Moslem, dessen SDA (Demokratische Aktion) zusammen mit +Untersatz Brottext 1(9), 1 ZL serbischer SDS (Serbische Demokratische Pareti) und kroatischer HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft) seit den Wahlen vor einem Jahr die bosnische Industriemetropole mit ihren 96.000 EinwohnerInnen regiert. Es fehlt an allem Wichtigen: Betäubungs- und Schmerzmittel, Antibiotika, Antidiabetika, Insulin, Antiepileptika, Verbandsmaterial.

„Es wird in absehbarer Zeit zu sozialen Unruhen in Bosnien und Herzegowina kommen, die zwischen den drei Nationalitäten ausgetragen werden“, stellt Muhamed Cengic von der SDA nüchtern fest. Der stellvertretende Parlamentspräsident und zweite Mann der mit 35 Prozent stärksten Partei verzieht auch keine Miene, als er auf meine Frage nach der Handlungsfähigkeit mit einer glasklaren Bankrotterklärung antwortet: „Leider kann diese Regierung nicht mehr regieren.“ Das geografische Zentrum Jugoslawiens, diese „Brücke zwischen dem Balkan und Europa“, ist blockiert: zur Adria von der Bundesarmee, in Richtung Westen durch kroatische Milizen und gesprengte Brücken — nur nach Serbien bleiben noch einige freie Straßen. Was wenig hilft. Sprit- und Geldmangel machen Transporte, Im- und Exporte, zu Raritäten.

Im „Europa“ kassiert unterdessen der durchgefrorene Kellner 20 Dinar für meinen extrastarken, zuckersüßen türkischen Kaffee. Also 1,60 DM. Oder 80 Pfennig, oder nur 35, wenn es nach den Männern draußen vor der Tür geht, die für eine Mark 44 Dinar geben. 25 zahlt die Bank, und der offizielle „Markovic-Kurs“ von zwölf zu eins wird sowieso von niemandem ernst genommen. Spöttisch benannt nach dem machtlosen Ministerpräsidenten, der vor zwei Jahren Jugoslawien per Radikalkur frei- marktwirtschaftlich umgestalten wollte, orientieren sich die Preise längst nicht mehr an ihm. Nur die Löhne.

Im maroden und dringend sanierungsbedürftigen Zenicaer Stahlwerk wurde der Dinar durch Bons ersetzt, die lediglich in bestimmten Geschäften zum Einkauf berechtigen, und das zu überhöhten Preisen. Mirjana Vjestica, 32, alleinerziehende Mutter eines achtjährigen Sohns, arbeitet in der Stahlwerksverwaltung und erhält, wenn überhaupt Lohn gezahlt wird, 2.000 bis 3.000 Dinar — zum Sterben etwas zuviel. Einigermaßen gut überleben kann hier nur, wer über Rücklagen verfügt, ein wenig Subsistenzlandwirtschaft betreibt oder irgendwie an Devisen herankommt — sei es über im Ausland arbeitende Verwandte, sei es über den im Ausland erworbenen eigenen Rentenanspruch. Letztgenannte gehören — wenn auch nur in bescheidenem Maße — zu den Privilegierten im Währungsgeschäft und dessen Variante Nummer soundsoviel: Direkter Kauf in Devisen. „Lada 1500, Baujahr 1980, 5.000 DM“, steht im Schaukasten der Firma „Intermedium Visegrad“. Dinare und Bons werden nicht genommen.

„Tot. Jugoslawien tot“, erklärt der Moslem Cengic auf deutsch und kreuzt die Hände vor seinem Oberkörper, um sie im nächsten Moment zur Seite zu strecken. Schluß, aus. Seine Meinung wird vom Generalsekretär der kroatischen HDZ, Ivan Markesic, geteilt: „Wir sind von Anfang an gegen eine föderative Republik Jugoslawien gewesen.“ Der 37jährige Soziologie-Professor, von Jesuiten erzogen und zur „politischen Theologie von Dorothee Sölle“ promoviert, über seine Vorstellungen vom künftigen Bosnien: „Wir haben nichts dagegen, daß wir als unabhängiger Staat eine Konföderation mit Republiken wie Mazedonien, Slowenien und Kroatien bilden.“ Und warum nicht mit Serbien— dann käme letztendlich ja doch noch so etwas wie ein Bund der Südslawen, ein Jugoslawien, heraus? Weil Serbien keine Konföderation wolle und sich für den Namen „Jugoslawien“ interessiere, denn dieser besitze „ein Image in der Welt“, sagt der Generalsekretär. „Serbien übernimmt alles, was gut war an Jugoslawien. Und Serbien hat sehr gut von der Föderation gelebt.“ Belgrad habe von allen anderen kassiert und zudem die wichtigsten staatlichen Institutionen dominiert. So seien im Außenministerium 80 Prozent Serben beschäftigt gewesen.

Am liebsten reden die Politiker von Vergangenem, das sie „Geschichte“ nennen. Jeder macht seine eigene — je nach Volkszugehörigkeit. Schuld ist immer der andere, und wer am lautstärksten agiert, setzt sich durch. Also streiten die drei Vorsitzenden der Nationalparteien telegen geschminkt von den Bildschirmen in die Wohnzimmer, zaubern dieses und jenes Dokument von früher aus den Ärmeln, erklären sich für historisch und sammeln Pluspunkte, allerdings jeweils nur bei den ZuschauerInnen ihrer Nationalität. Polemik ersetzt Argumente. Aggressivität verdrängt die Ratio. Und je stärker gegen das vermeintlich gegnerische Volk aufgetrumpft wird, desto stärker werden die nationalen Fanatiker.

Der Konflikt spitzt sich zu. Die kroatische und moslemische Nationalpartei — die zusammen mit 130 von 240 Sitzen über die absolute Mehrheit im Parlament verfügen —, bleiben bei ihrer Unabhängigkeitserklärung und warten ab. Muhamed Cengic: „Wir hoffen, daß die andere Seite zur Vernunft kommt und auch das Militär ruhig bleibt.“ Mit der „anderen Seite“ ist paradoxerweise der Dritte im Regierungsbunde gemeint, die serbische SDS. Die beteiligt sich zwar immer noch — wenn sie nicht gerade demonstrativ den Saal verläßt — am Parlamentsgeschehen, hat jedoch zugleich ein serbisches Parallelparlament gebildet, verfolgt stur ihren national-bornierten Kurs und denkt ebensowenig wie SDA und HDZ an ein entspannendes Einlenken.

SDS-Vorsitzender Radovand Karadzic erklärt seine Sicht der bosnischen Zwickmühle: „Es gibt drei total gleichberechtigte Nationen. 18 Prozent Kroaten, mehr als 44 Prozent Moslems und 32 Prozent Serben. Niemand kann für den anderen entscheiden. Entweder es kommt zum Konsens, oder jede Nation muß für sich entscheiden, nicht für die andere.“ Und also führte die SDS jüngst eine Volksabstimmung unter den SerbInnen durch, an der sich 90 Prozent beteiligten und fast alle ja zum Verbleib im jugoslawischen Föderalismus sagten. Karadzic, der 46jährige Psychoanalytiker und Dichter: „Angenommen, hier am Tisch sitzen drei gleichberechtigte Leute zusammen und zwei von ihnen entscheiden sich, aus dem Fenster zu springen. Sie sagen: Wir springen, und du mußt mitspringen. Du willst aber nicht. Und das ist das Problem. Sie können nicht für dich entscheiden. Sein Konzept: „Jugoslawien erhalten für alle Völker, die es wünschen. Allen anderen ermöglichen, daß sie sich auf friedliche Weise von Jugoslawien trennen, wenn sie das wollen.“

Etwas Ähnliches wie ein dreifacher Fenstersprung steht tatsächlich bevor. Erstarrte Positionen stellen Bosnien und Herzegowina in seinen bisherigen Grenzen zur Disposition. Im Gespräch ist unter anderem die grenzübergreifende Bildung eines neuen Staates aus den Bestandteilen West-Bosnien und Ost-Kroatien — zwei Gebiete, die mehrheitlich von SerbInnen bewohnt sind. Ob sich dann kroatisch dominierte Gegenden an Kroatien anschließen, ob eine bosnisch-herzegowinische Schrumpfrepublik aus Moslems und Kroaten entstünde, ob es zu einer Konföderation mit Slowenien und Kroatien käme, bleibt Spekulation und unwichtig.

Aktuell wichtig ist lediglich die nüchterne Feststellung, daß eine staatliche Neubildung nach ethnischen Kriterien ohne Blutvergießen kaum vorstellbar ist. Ein Blick auf die Nationalitätenkarte verdeutlicht: Bosnien und die Herzegowina gleichen dem fleckigen Fell eines Leoparden. Es gibt kaum geschlossen von einer Nation besiedeltes Land. Mitten in West-Bosnien beispielsweise liegen mehrere Gebiete mit überwiegend moslemischen oder kroatischen BewohnerInnen. Jedes Volk ist über das ganze Land verteilt. „Es gibt kein Haus, in dem nicht Serben, Moslems, Kroaten miteinander wohnen. Wenn es zur Gewalt käme, würde der blutigste Bürgerkrieg stattfinden, den dieses Land je erlebt hat.“ Und dabei bliebe es nach Meinung von Muhamed Cengic nicht: „Wenn es hier zum Krieg kommt, ist sicher, daß auch die Albaner im Kosovo, Bulgaren, Ungarn, Moslems aus Serbien in den Krieg ziehen.“ Serbische Serben würden bosnischen Serben beistehen, und die Bundesarmee konzentriert schon heute Truppen in Sarajewo und Mostar und Banja Luka.

In Bosnien und Herzegowinas Geschichte überlebten häufig nur Stein und Fels, wenn Schießpulver, Feuer und Haß regierten. 1463: Hinrichtung des letzten bosnischen Königs, als die Türken das Land überrannten und dem Osmanischen Reich angliederten. Vier Jahrhunderte türkischer Herrschaft folgten, Aufstände wurden niedergeschlagen, dann übernahm das Haus Habsburg die Macht. Widerstand gärte, die Bewegung „Junges Bosnien“ wollte Unabhängigkeit, und ihr Mitglied Gavrilo Princip erschoß 1914 kurzerhand den K.u.k-Thronfolger. Ein tiefes, unverdautes Trauma folgte von 1941 bis 1944 nach dem gewaltsamen Ende des ersten jugoslawischen Staates. Fremdenhaß marschierte mit der Nazi-Wehrmacht ein. Bosnien und Herzegowina wurden dem faschistischen Ustasha-Kroatien zugeschlagen: In Konzentrationslagern wurden Hunderttausende Menschen, meist SerbInnen, umgebracht. Und: Racheaktionen vor allem seitens der königstreuen serbischen Cetniks fielen ungezählte KroatInnen zum Opfer.

Zum Beispiel das Dorf Bruzna. Zair Prando, 54, sitzt mir gegenüber auf der Holzbank. Kühl und diesig ist es am Hang der blauen Berge, und nicht nur die den Körper hochwandernde Kälte behindert den Gedanken an eine friedliche Landidylle. Sicher, auch Zair, der moslemische Landwirt mit dem tief zerfurchten Gesicht und dicken, weiß-grauen Haaren, berichtet wie seine serbischen Nachbarn von der Stanojewic- Familie gerne davon, daß die unterschiedlichen Nationalitäten seit Jahrzehnten und länger gut zusammenleben. „Irgendwie waren wir immer aufeinander angewiesen.“ Doch als das Gespräch auf seinen 1944 gestorbenen Vater kommt, schweigt der Moslem, möchte nicht darüber reden. Erst später, als seine Mutter Muska, die trotz ihrer 91 Jahre immer noch Vieh hütet und Unkraut jätet, Vertrauen gefaßt hat, ist zu erfahren: Ihr Mann, Zairs Vater, wurde verschleppt und umgebracht. Nicht von den serbischen Nachbarn, aber doch von Serben.

Das war in Foca 1944. Von 5.000 Leichen wird erzählt, die nach einem fürchterlichen Menschenschlachten in der Drina trieben. Eine Thematisierung fand nach der Befreiung 1944/45 durch Tito-Partisanen und Rote Armee nur unzulänglich statt. Im Namen eines einheitlichen Jugoslawiens, einer nationalen Versöhnung und wohl in leichtsinniger Verkennung von Unterschieden zwischen den Völkern, wurde die Nationalitätenfrage kurzerhand für gelöst erklärt und das Vergangene ad acta gelegt. Doch vergessen wurde nirgendwo. „Eins ist klar: Die Kommunisten haben die nationale Frage nie gelöst“, sagt Professorin Emina Keco von der SDP, die aus der Ex-KP hervorgegangen ist und sich zu einer „modernen sozialistischen Partei“ entwickeln will. Sie verfügt zusammen mit Reformisten und anderen als „Vereinte Opposition“ über gut 30 einflußlose Parlamentssitze.

Bewaffnet ist in Bosnien fast jeder, und Emina Keco fürchtet, daß „diese Waffen wie im Western auch eingesetzt werden“. „Ich würde notfalls für Jugoslawien sterben“, verkündet vollmundig einer der drei knorrigen Vukovic-Brüder oben im Dorf Bruzna, nachdem vorher stundenlang von guter Nachbarschaft und Friedenswillen erzählt wurde. „Dann paß mal auf, daß ihr am Ende nicht beide tot seid“, kommentiert die 75jährige Kosa, eine schlichte Bäuerin, und legt zur Unterstreichung ihrer bissigen Bemerkung ausnahmsweise die ansonsten obligatorisch zwischen den Lippen qualmende Zigarette beiseite.

Kosas Verwandte Dana aus Visegrad versteht unterdessen die Welt nicht mehr, weil sie von der Moslem- Heirat hörte, die mit Dauerhupton und Autokorso durch die Stadt gefeiert wurde — vorne eine riesige grüne Moslem-Fahne, hinten die überdimensionale blau-weiß-rote mit dem roten Sozialistenstern in der Mitte. Bis zu diesem Schlüsselerlebnis wußte Dana nur von den vier moslemischen Extremisten und deren schweren Vorschlaghämmern, mit denen sie systematisch so lange auf das Denkmal für Ivo Andric eingeschlagen hatten, bis nur noch Trümmer blieben. Ein kahler Betonsockel am Aufgang zur „Brücke über die Drina“, Andric' bekanntestem Roman, in dem die farbige Geschichte des Landes einfühlsam und fesselnd erzählt wird, zeugt davon. Der jugoslawische Literatur-Nobelpreisträger von 1961 habe schlecht über Moslems und Türken geschrieben, begründeten die Fanatiker mit geschwellter Brust ihre Haltung.

Seitdem geht in Visegrad eine lähmende Angst um. Kritiker des Wahnsinns möchten nicht beim Namen genannt werden, weil sie Schmierereien an ihren Häusern eingeschüchtert haben. Sie fürchten um das Leben ihrer Familien. Nur einige junge Frauen aus der kargen Kulturszene der 25.000-EinwohnerInnen- Stadt wehren sich, zitieren das deutsche Dichterwort von Bücherverbrennern, die schließlich auch Menschen verbrennen würden.