Keine Chance im Clinch mit dem europäischen Goliath

■ Bei ihren Versuchen, EG-Politik zu gestalten, scheiterten die kleinen Niederlande ein ums andere Mal an Europas Großen

Eigentlich hätte Genscher aufspringen und „Hurra“ rufen müssen, als sein Kollege van den Broek am 30. September seinen Entwurf für eine Politische Union vorstellte. Ganz fest hatten die Niederlande mit einer euphorischen Reaktion aus Bonn gerechnet, denn von der gemeinsamen Außenpolitik über eine gemeinsame Innenpolitik bis hin zu einer Aufwertung des Europäischen Parlaments berücksichtigte ihr Vorschlag so ziemlich alle deutschen Wünsche an die künftige Verfassung der EG.

Doch Genscher sagte gar nichts. Er schwieg, bis alle anderen EG- Mitgliedsländer — außer Belgien — den Vorschlag verrissen hatten. Erst dann meldete sich der Deutsche zu Wort — und schloß sich der Front der Nein-Sager an. Der enttäuschende Verlauf ging als „schwarzer Montag“ in die niederländischen EG- Annalen ein: Den Haag mußte sein Papier zurückziehen. Der Kompromiß, den es schließlich im November nachreichte und der Diskussionsgrundlage in Maastricht ist, war eine Neuauflage des Luxemburger Entwurfs, der schon in der ersten Jahreshälfte diskutiert wurde. Ein ähnliches Fiasko erlebten die Niederländer bei dem Versuch, die Wirtschafts- und Währungsunion zu gestalten: Auch da stieß erst das zweite Papier auf die Gnade der Partner.

Seit dem „schwarzen Montag“ steht fest, daß der niederländische EG-Vorsitz, der am 1. Juli begann und mit dem Maastrichter Gipfel kulminieren sollte, ein vergeblicher Versuch war, die formale Gleichberechtigung der EG-Mitglieder auch in der Praxis umzusetzen. Was auch immer das 14 Millionen Einwohner zählende Land tat — es wurde konterkariert. Besondere Tiefschläge kamen von dem großen Nachbarn im Osten: Bonn entwickelte — assistiert von Paris und gelegentlich Madrid — eigene Parallel- Pläne für die Politische Union sowie für eine europäische Armee. Soli im EG-Konzert spielten aber auch Rom und London, die neben Paris und Bonn die zweite EG-Verteidigungsinitiative dieses Halbjahres starteten. Einziger vorweisbarer Erfolg der Niederländer blieb der Vertrag über einen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit den sieben EFTA-Ländern, der nach zahlreichen Verzögerungen und ausgesprochen zähen Verhandlungen im Herbst zustandekam.

Krampfhaft versuchte Hollands Premier Lubbers die EG außenpolitisch auf einen Kurs zu bringen. Den Krieg am Golf und die Handlungsunfähigkeit der EG hatte er als Negativbeispiel vor Augen. Doch im Fall Jugoslawiens offenbarte sich dieselbe Schwäche. Die EG — auf deren Vermittlung die kämpfenden Parteien in Jugoslawien hofften — hielt sich zurück. Selbst als schon die Panzer rollten, setzte sie noch auf den Erhalt des Zentralstaats. Mehrfach reiste eine „Troika“ von Regierungsmitgliedern zu Vermittlungsgesprächen nach Belgrad. Dann schickte die EG Beobachter auf das Schlachtfeld. Schließlich startete sie die Friedenskonferenz in Den Haag, deren 14. Waffenstillstand gerade gebrochen wird. Erst im November folgten Sanktionen gegen Gesamt-Jugoslawien, von denen vor wenigen Tagen vier Republiken ausgenommen wurden.

Weitergehende Maßnahmen scheiterten sowohl an der Verfassung der EG (zu deren Kompetenzen die Außenpolitik bislang nicht gehört), als auch an den grundverschiedenen Interessen der Mitgliedsländer. „Der Ausbruch des Konflikts traf die EG völlig überraschend. Zudem hatte sie keine Instrumente, um darauf zu reagieren“, stellt der Politologe Radovan Vukadinovic von der Universität Zagreb fest, der zur Zeit in den Den Haag die Beziehungen zwischen der EG und Jugoslawien untersucht. Dabei hätte die EG selbst mit ihrem beschränkten Instrumentarium durchaus Möglichkeiten gehabt, auf den Konflikt einzuwirken. „Hätte die EG vor vier Jahren, als im Kosovo die Menschenrechte massiv verletzt wurden, wirtschaftliche Druckmittel eingesetzt, hätte Serbien das Signal vielleicht noch verstanden“, so Vukadinovic.

Im Schatten der gemeinschaftlichen Wirkungslosigkeit preschten einzelne Mitgliedsstaaten vor. Besonders die Jugoslawien-Politik der Bundesregierung machte vergessen, daß es überhaupt eine EG mit außenpolitischen Ambitionen gibt. Auf Bonns Ankündigung, Kroatien und Slowenien „auf jeden Fall“ nach dem Gipfel anzuerkennen, reagierte Den Haag verständnislos. „Das ist verbale Politik, die hohe Erwartungen weckt, die Deutschland dann nicht einlösen kann. Für den Frieden in der Region ist das nicht besonders nützlich“, kritisiert der EG-Experte beim „Institut für Internationale Beziehungen“ in Den Haag, Rozemond.

Die Niederlande waren angetreten, ein wenig mehr „Demokratie und Logik“ in die EG zu bringen. Schon möglich, daß Den Haag seine Vorschläge ungeschickt in die Debatte geworfen hat und bislang zu viel über den Atlantik und zu wenig nach Osteuropa geschaut hat, meinen heute viele niederländische Beobachter. Aber Abfuhren wie die aus Bonn rechtfertige das noch lange nicht. „Vielleicht hat Genscher den niederländischen Vorschlag ja vor allem deswegen abgelehnt, weil er den Ruhm nicht einem kleinen Land gönnt“, sagt Rozemond. Aber das sei „wirklich nur eine Spekulation“. Dorothea Hahn