Europa im Teufelskreis nationaler Egoismen

■ Wenn sich heute und morgen die Regierungschefs der europäischen Zwölf an einen Tisch setzen, um die vielbeschworene Europäische Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie...

Europa im Teufelskreis nationaler Egoismen Wenn sich heute und morgen die Regierungschefs der europäischen Zwölf an einen Tisch setzen, um die vielbeschworene Europäische Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie einer Europa-Währung auszuhandeln, haben sie zunächst nur die Hoffnung im Gepäck, daß sich die nationalen Differenzen überhaupt überwinden lassen.

Ungewöhnliches geht dieser Tage im Schatten des Brüsseler Berlayemont- Gebäudes vor sich. Spät abends, wenn sie sich unbeobachtet wähnen, ziehen kleine Prozessionen EG-Gläubiger zum verwaisten Nebeneingang der Eurokratie. Dort, im flackernden Fackellicht, versammeln sie sich unter dem „Baum der Hoffnung“, um Kränze niederzulegen. Das steinerne Denkmal soll Hoffnung stiften, Hoffnung, daß der „Einigungsprozeß Europas erfolgreich voranschreitet“.

Denn seit dem Geschenk aus Italien letzten Winter der „Wüstensturm“ in die marmornen Äste gefahren ist, hagelt es Hiobsbotschaften: den Schönwetter-Europäern laufe die Geschichte davon, die zu machen sie vor Jahresfrist noch vorgaben. Im Gefolge der Umbrüche und Kriege im letzten Jahr seien nationale Sonderinteressen in der Gemeinschaft allenthalben wieder auf dem Vormarsch. Weswegen EG-Kommissionspräsident Jacques Delors sogar nicht mehr ausschließen mag, daß die Maastrichter Gipfelstürmer heute und morgen eine Pleite liefern.

Frankreichs Fran¿ois Mitterrand fürchtet für diesen Fall „einen Rückfall Europas in das 19. Jahrhundert“ — mit der Wiederkehr einer „wilden Konkurrenz der Nationalstaaten“. Der deutsche Kanzler warnt sogar von einer „Katastrophe“. Wohl um die zu vermeiden, zeigte sich Kohl in den letzten Tagen bereits konziliant: Seine ursprüngliche Forderung nach Aufwertung der „weichen“ Bereiche wie Soziales, Umwelt und Demokratie ließ er im Austausch für Zugeständnisse vor allem der Briten in den „harten“ Fragen kurzerhand fallen.

Auch die mehrfach theatralisch in Szene gesetzte Drohung, den Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nicht zu unterschreiben, falls es bei der parallel dazu verhandelten politischen Union nicht zu „substantiellen Fortschritten“ komme, ist längst überholt. Der Ausbau des EG-Binnenmarkts zur wirtschaftlichen und militärischen Großmacht geht schließlich vor. Dafür sorgt schon die wachsende Angst der europäischen Industrie vor den überseeischen Konkurrenten aus Japan und den USA, aber auch vor dem drohenden Chaos in Mittelosteuropa.

„Fortschritte“ sind also — entgegen den Unkenrufen des EG-Einpeitschers Delors — in Maastricht so gut wie sicher. Der Motor des „Europas 2000“, die WWU, soll rechtzeitig zum Übergang ins nächste Jahrtausend einsatzfähig sein. Über eine entsprechende Stufenlösung sind sich die Zwölf weitgehend einig. Zwar besteht Großbritanniens Euroschreck John Major noch auf einer Sonderregelung; diese hat aber mehr wahltaktischen als grundsätzlichen Charakter. Als Bluff wird auch die spanische Drohung gewertet, die Unterschrift unter den Vertrag zu verweigern, falls die reicheren Länder sich nicht bereit erklären, mehr Geld in die weniger entwickelten Regionen der EG zu pumpen. Darüber soll erst im kommenden Jahr entschieden werden. Abgeschlagen scheint zudem Kohls Ansinnen, durch eine gemeinsame EG-Asylpolitik die innenpolitischen Gegner einer dafür benötigten Verfassungsänderung unter Druck setzen zu können.

Schließlich profitieren die anderen Länder von der deutschen Regelung, die von etwa 60 Prozent der in der Gemeinschaft Asylsuchenden in Anspruch genommen wird. Ein starkes Gerangel erwarten die Unterhändler dagegen um die Frage der Sitzverteilung einiger EG-Institutionen: Im Austausch für eine definitive Zusage, daß die Plenumssitzungen des Europarlaments auch künftig in Straßburg abgehalten werden müssen, könnte beispielsweise Mitterrand sich bereit erklären, die prestigeträchtige zukünftige europäische Zentralbank in Amsterdam einzuquartieren. Die Umweltagentur wiederum möchte man diesem Plan zufolge in Madrid heimisch machen.

Größere Zugeständnisse erfordern auch die britischen Widerstände gegen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Doch sogar in diesen Fragen deutet sich ein Erfolg Kohlscher Kompromißpolitik an: Für einige Unteraspekte einer gemeinsamen Außenpolitik stellten die Londoner Unterhändler Donnerstag nacht Mehrheitsabstimmungen in Aussicht, falls die Drohung fallengelassen würde, die Umwelt- und Sozialpolitik in Zukunft notfalls ohne Großbritannien zu beschließen.

Daß diese sowieso nicht ernst gemeint war, ist auch der britischen Regierung klar. Aber im Show-Kampf der Euro-Giganten ist jedes noch so schräge Argument recht, solange es nur das heimische Publikum begeistert. Erste Erfolge kann Major bereits verzeichnen: Seine Partei, vor kurzem noch an einem historischen Tiefpunkt angelangt, hat die oppositionellen Labours in der Wählergunst wieder überflügelt — wichtige Voraussetzung für seine Wiederwahl beim nächsten Urnengang im Frühjahr. Verantwortlich für den Stimmungsumschwung ist angeblich die entschlossene Haltung, mit der der britische Premierminister dem Vormarsch der Brüsseler Zentralisten Einhalt gebietet.

In der Hitze des Gefechts übersehen die aufgebrachten Pseudo-Krieger allerdings, daß im letzten Jahrzehnt gerade in Großbritannien — entgegen anderslautender Propaganda — ein enormer Zentralisierungsprozeß stattgefunden hat. Regionale Regierungen wurden von Majors Vorgängerin Margaret Thatcher entweder ganz abgeschafft oder zumindest stark in ihrem Entscheidungsspielraum eingeschränkt. In den meisten anderen Ländern EG- Europas begann währenddessen ein entgegengesetzter Trend: Belgien wandelte sich zum Bundesstaat, im zentralistischen Frankreich arbeitet man an einer föderaleren Struktur, ebenso in Spanien und Italien.

Daß es von ihren sich ur-britisch gebährdenden Politikern nur verschaukelt wird, scheint das insulane Wahlvolk trotz wiederholter Aufklärungsversuche der nicht-tory-hörigen Presse wenig anzufechten. Verbissen verteidigt man statt dessen die Rechte des Unterhauses und der Regierung, obwohl das Parlament in vielen Fragen ohnehin schon nichts mehr zu melden hat.

Statt seiner gefallen sich die britischen Minister im Rahmen des EG- Ministerrats zunehmend in der Rolle der Legislative. Und die Regierung, so witzeln britische Eurokraten, bezieht ihre Weisungen in wesentlichen Fragen wie der Währungs- und Sicherheitspolitik auch schon seit längerem von der Frankfurter Bundesbank oder dem Brüsseler Nato- Hauptquartier.

Nicht ganz unwichtiger Nebeneffekt dieses durchaus plastisch dargebotenen Schaukampfs: Die seit langem versprochene europäische Sozialpolitik bleibt ebenso auf der Strecke wie eine diesen Namen verdienende EG-weite Umweltpolitik oder die Beseitigung des „Demokratiedefizits“ in der Gemeinschaft. Als Buhmann dient den kontinentalen EG-Größen dabei ihr britischer Kollege, dem sie dadurch helfen, die nächsten Wahlen zu gewinnen, was wiederum Voraussetzung ist für die Fortsetzung ihrer Politik der Machtanhäufung auf EG-Ebene — was wiederum in Großbritannien als Rechtfertigung für die anti-europäische Haltung benutzt wird — ein Teufelskreis, den bislang weder die eingeschüchterten EuropaparlamentarierInnen noch die ketzerischen Bittsteller zu Füßen der Eurokratie durchbrechen konnten. Michael Bullard, Brüssel