Sehen über Sehen

■ Eine Ausstellung im U-Bahnhof Moritzplatz

Moritzplatz, letzer Halt in Berlin-West, einsteigen bitte, zuuuurrrrückbleiben!!!« Der U-Bahnhof markierte jahrelang eine Grenze, deren Überschreiten in Richtung Ost stets ein Durchqueren war, niemals ein Hinüberfahren. Die benachbarten toten Bahnhöfe machten deutlich, daß man geduldet, nicht willkommen war.

Heute ist die U8 eine der wichtigsten Verbindungslinien zwischen den beiden Stadthälften. Die ersten Erkundungsschritte sind getan, und zu dem Befremden angesichts des »anderen Berlins« gesellt sich bei vielen die Angst, daß durch den Umwandlungsprozeß auch das Vertraute fremd wird. Eine Fotoausstellung im U-Bahnhof Moritzplatz, initiiert vom Frauenstadtteilzentrum Schokoladenfabrik, greift die Suche nach Orientierung im sich verändernden Stadtraum auf. Neun Frauen haben zwei Wochen lang Kreuzberg und die angrenzenden Bezirke durchstreift und die eigene Bewegung im öffentlichen Raum mit der Kamera festgehalten. Das ausschlaggebende Kriterium für ihre Arbeiten war das eigene, subjektive Verhältnis zu ihrer Umwelt. Der Gewaltaspekt wurde auf diese Art und Weise zum vorherrschenden Thema der Ausstellung: Ein losgelöster Wackerstein am Straßenrand neben einem Kind mit Knüppel, ein Haufen Stacheldraht, ein aus Stoff ausgeschnittener Umriß eines Frauenkörpers — nur die Vagina wurde als einziges Detail vom Künstler herausgearbeitet —, durch den ein Stück Grenzstreifen zu sehen ist, Häuser, die die Menschen zwischen ihnen zu erschlagen drohen. Besonders sinnbildlich hat Cornelia Ernst ihr Verhältnis zur städtischen Umwelt auf den Punkt gebracht: Sie fotografierte ihre Füße bzw. das Vorderrad ihres Fahrrads auf dem Boden liegend einmal vor einem Ost- und einmal vor einem Westberliner Ensemble von (Männer-?) Beinen. Was auf den ersten Blick die Assoziation Fahrradunfall hervorruft, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als vielschichtig lesbare Bildergeschichte. Der öffentliche Raum, der schon so manchem Flaneur als Herausforderung galt, ihn sich schlendernd anzueignen und mit dem Stift oder der Kamera neu zu bezeichnen, ist für Frauen offenbar immer noch ein problematisches Terrain. Es wird häufig weniger als Inspiration empfunden sondern, (spätestens nach Einbruch der Dunkelheit) als Bedrohung, dies um so mehr, wenn sich die bestehenden Orientierungshilfen und Schlupfwinkel verändern.

Leider ist es nicht allen Fotografinnen gelungen, für ihre Irritation ähnlich starke Bilder zu finden wie Cornelia Ernst. Diverse Bilder zitieren allzu Bekanntes und erwecken so den Eindruck, sie schon -zigmal an anderer Stelle gesehen zu haben. Andere verraten zu deutlich die Aussageabsichten der Fotografinnen und lösen dadurch weder Fragen noch Erstaunen aus. Ungewöhnlich ist dagegen die Präsentation der Bilder: Sie wurden, in Anlehnung an die Ostberliner Tradition, auf den von der Werbung nicht genutzten und deshalb »tote Augen« genannten hölzernen Reklameflächen angebracht. Die Eindrücke vom öffentlichen Raum sind somit in denselben zurückgekehrt. Dort können die großformatigen Bilder (2 mal 1,30 Meter) nun bis zum 29.Februar, im fahrplangemäßen Fünf-Minuten-Takt, betrachtet werden. Dies gilt allerdings nur für die östliche Hälfte des Bahnsteigs. Die andere Hälfte wurde — Bescheidenheit ist eine Zier... — den Werbefirmen überlassen. Sonja Schock