»Desertieren aus Angst ist nicht akzeptabel«

■ Ein sehr deutsches Interview mit dem Landesvorsitzenden des wiederauferstandenen Berliner Reservistenverbandes

In Berlin gibt es mit der Einheit auch wieder einen offiziellen Reservistenverband. Die taz sprach mit dem Landesvorsitzenden Friedrich Windeck (47). Der aus Herford stammende Diplom-Politologe arbeitet an der Berliner Verwaltungsakademie und ist Oberstleutnant der Reserve.

taz: Herr Windeck, der Reservistenverband Berlin hat wegen des entmilitarisierten Status der Stadt 27 Jahre lang illegal, quasi im Untergrund gearbeitet. Wie haben Sie ihre Mitglieder gewonnen?

Windeck: Illegal war das auf keinen Fall. Wir durften nur nicht an die Öffentlichkeit treten, keine Werbung machen. Auch die militärische Aus- und Fortbildung durften wir nicht in Berlin betreiben — das lief im Bundesgebiet. Nachwuchs gab's nur durch Mundpropaganda. Der Berliner Verband hat — je nach politischer Großwetterlage — unterschiedliche politische Förderung erfahren.

Wie viele Mitglieder haben sie jetzt?

250 mit steigender Tendenz. Jetzt nach der Wende kamen etwa 100 dazu. In Berlin gibt es etwa 8.000 Reservisten. Im Durchschnitt interessieren sich etwa fünf Prozent davon für den Verband. Bundesweit hat der Verband 140.000 Mitglieder.

Was sind eigentlich die Aufgaben des Reservistenverbandes?

Wir lassen uns von der Erkenntnis leiten, daß man mit ausschließlich gewaltfreien Mitteln keinen Frieden halten kann in der Welt. Wir machen Öffentlichkeitsarbeit für den Verteidigungsgedanken, wollen Multiplikator sein für den normalen Bürger. Der Reservistenverband hat den parlamentarischen Auftrag, die allgemeine Reservistenarbeit der Bundeswehr durchzuführen.

Sie leisten auch militärische Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Reservisten. Wie läuft so etwas ab?

Das sind einmal militärpolitische Informationen, aber auch — im Zusammenwirken mit der Bundeswehr — die Fortbildung in Form von Waffentraining, Marschübungen bis hin zur taktischen Weiterbildung.

Das sind dann die üblichen »Reserveübungen« der Bundeswehr?

Nein. Reserveübungen macht die Bundeswehr, die gehen von der Armee aus. Dann besetzen die Reservisten zur Übung die Plätze, für die sie vorgesehen sind. Wir als Verband machen die sogenannten dienstlichen Veranstaltungen: Wir waren etwa vor zwei Monaten auf dem Truppenübungsplatz Lehnin beim Gefechtsschießen. Wir spielen doch nicht selbst im Grunewald »Räuber und Gendarm«.

Wie werden sie mit den noch zu gründenden Kameradschaften im Osten umgehen? Diese Soldaten waren doch bis vor kurzem ihre Feinde. Ihr Verband spricht von »sauberen Lösungen«.

Es waren keine Feinde, sondern Gegner. Die saubere Lösung ist natürlich schwierig. Grundsätzlich gehen wir davon aus, daß alles Deutsche sind, die voll integriert werden sollen. Höhere Offiziere waren aber stark in das System verwickelt, Stasi- abhängig und ideologisch überzeugt. Das ist ein ähnliches Problem wie bei der Aufstellung der Bundeswehr in den 50er Jahren. Für die NVA wurde von der Bundeswehr festgelegt, daß alles von Oberst an aufwärts nicht übernommen werden kann. Daran orientieren wir uns. So, wie wir Rechtsradikale nicht wollen, wollen wir auch das Gegenteil nicht.

Was halten Sie von Totalverweigerern?

Wer sich total verweigert, der tut nur so, als würde die Welt dann besser und friedlicher. Er fördert eher das Gegenteil.

In Potsdam steht ein »Denkmal für den unbekannten Deserteur«, das die Stadt Bonn bei sich nicht dulden wollte. Sollte das später mal in Berlin stehen?

Wenn das eine Mehrheitsentscheidung wäre, würde ich mich auch damit abfinden. Aber grundsätzlich halte ich auch Deserteure für Utopisten. Die Bundeswehr ist keine Armee einer Diktatur. Die Politik hat darauf zu achten, daß die Bundeswehr nur für saubere Sachen eingesetzt wird. Wenn dieses nicht so sein sollte, dann könnte man auch über Desertion diskutieren. Ich würde von akzeptablen und von nichtakzeptablen Gründen sprechen: Nicht akzeptabel ist das Verlassen der Truppe aus Angst oder wegen persönlicher Vorteile. Akzeptabel wäre es, wenn ein Soldat direkt mit Verbrechen konfrontiert ist oder wie bei Kriegsschluß 1945, wenn er merkt, daß eine Änderung aussichtslos ist. Dies gilt aber nicht für mich persönlich.

Sollte es wieder einen Wachwechsel Unter den Linden geben?

Wenn er akzeptiert wird, sicher. Aber ich wünsche ihn mir folkloristischer als den martialischen Wachwechsel in manchen anderen Ländern.

Die Bundeswehr muß seit dem Golfkrieg mit immer mehr Kriegsdienstverweigerern leben. In vielen öffentlichen Äußerungen wird eine Krise der Armee deutlich.

Die sehe ich nicht. Ich sehe höchstens ein Mißverständnis darüber, wie groß die Armee sein muß. Sie muß schrumpfen, aber der Kernbestand darf nicht angetastet werden. Die Armee muß zu jedem Zeitpunkt schnell aufwachsen können.

Die Bundeswehr kann die vielen jungen Männer, die sie zur Verfügung hat, gar nicht mehr einziehen. Weil dagegen fast alle Zivildienstleistenden dienen müssen, wird die Wehrungerechtigkeit immer größer.

Da ist vor einigen Jahren eine Diskussion schon mal völlig falsch gelaufen — auch in unserem Verband. Die SPD/FDP-Koalition hatte ja mal die sogenannte Verweigerung per Postkarte — ohne schriftliche Begründung ohne Prüfungsausschuß — ermöglicht, die das Bundesverfassungsgericht dann abgeblockt hat. Die Diskussion ist damals viel zu kurzsichtig gelaufen. Der Wehrdienst ist ein Dienst an der Gesellschaft. Ein sehr großer Teil der Dienstpflichtigen würde, wäre die Auswahl freiwillig, in das kriselnde, kaum noch zu finanzierende Gesundheitswesen gehen. Und es blieben immer noch genug übrig, die zur Armee wollen.

Das klingt nach Arbeitsdienst.

Bestimmte Sachen, die von den Nazis oder auch von der DDR-Seite mißbraucht worden sind, sollten auf ihren tatsächlichen Gehalt abgeklopft werden. Das Vernünftige muß ohne ideologisches Brimborium weiterentwickelt werden. Diese allgemeine Dienstpflicht sollte dann für Männer und Frauen gelten.

Mit einer Berufsarmee können Sie sich nicht anfreunden?

Diese Armeen haben eine Tendenz, Staat im Staate zu sein. Da kann sich eine Abschottung entwickeln, ein negativer Korpsgeist.

Auch eine Wehrpflichtarmee gehorcht letzlich jedem Befehl.

Es kommt immer auf die politische Führung an. Die Wehrpflichtigenarmee ist auch nicht anders als die übrige Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft einen Diktator will, wird sich die Armee schwerlich ausschließen können.

Sie berufen sich in Reden gern auf preußische Traditionen. Was bedeuten die für Sie?

Die preußischen Reformer versuchten, die Armee von einem reinen Machtmittel der Regierenden zu einem Machtmittel auch des Volkes zu machen — um der französischen »levee en masse« etwas entgegenzusetzen.

Greifen Sie auch auf die Wehrmacht zurück?

Der Verband hat überhaupt kein Verhältnis zur Wehrmacht. Das ist ein bißchen ein Tabuthema. Wir sind der Verband der Reservisten der Bundeswehr und haben immer die Distanz zu den Traditionsverbänden der ehemaligen Wehrmacht gesucht. Wir schauen sehr darauf, welche Traditionen wann unter welchen Voraussetzungen entstanden sind. Aber es ist sicher ein Fehler gewesen, sich über lange Jahre jeder Tradition zu enthalten.

Zuviel Abstand zur Wehrmacht?

Das schlimme ist, daß man sich damit nicht auseinandergesetzt hat. Auch aus Angst, daß man angreifbar wäre. Das Problem der Wehrmacht war ja, daß es vorher in Deutschland kein Erfahrungen mit totalitären Systemen gab. Das war eine neue Situation. Es war ja nicht üblich, daß ein Vorgesetzter verbrecherische Befehle gibt. Auch der Offizier ging davon aus, daß der oberste Kriegsherr moralisch integer ist, das war die Grundeinstellung. Erst die Erkenntnis, daß der Eid auf den Führer auch eine zweiseitige Sache ist, die hat dann zum Widerstand geführt. Der Offizier ist grundsäzlich nicht zu verurteilen, soweit er sich nicht in diesem System engagiert hat. Allerdings haben sich auch Offiziere durch Beförderung und ähnliches korrumpieren lassen.

Ist das nicht eine grundsätzliche Frage von Befehl und Gehorsam?

Der »Kommissarbefehl« bespielsweise, der Befehl, alle politischen Komissare der Sowjets sofort zu erschießen, hat in der Wehrmacht viele Schwierigkeiten, unterschiedliche Emotionen hervorgerufen. Viele — nicht alle — haben generell gesagt: Hier ist ein Befehl aus Berlin, den beachten wir nicht, die behandeln wir nach der Genfer Konvention. Wenn die Kommissare dann in die Kriegsgefangenschaft kamen, wurden sie natürlich dem Befehlsbereich derjenigen entzogen, die den Befehl ignorierten. Was dann passierte, lag dann nicht mehr in deren Hand.

Von Berlin sind zwei deutsche Weltkriege ausgegangen. Wäre eine entmilitarisierte Hauptstadt nicht eine gute Idee gewesen?

Der zweite Weltkrieg ist von hier ausgegangen — wenn auch nicht so eindeutig, wie das hingestellt wird. Aber über den ersten würde ich da diskutieren wollen. An dessen Ausbruch waren viele Nationen beteiligt. Was Sie ansprechen, das hat doch mit den Armeen selbst herzlich wenig zu tun. Die Armeen sind das Machtmittel des Staates. Das Mittel kann man doch nicht dafür bestrafen, daß derjenige, der es einsetzt, es falsch gebraucht. Interview: H.-H. Kotte