Angst wie die Tiere

■ Krieg und Schrecken im Theater: Ein Abend im Frankfurter Theater am Turm

Martin Wuttke, seit seiner Zusammenarbeit mit dem ebenso theatromanen Regisseur Einar Schleef als manischster aller Theatermaniacs, spielt Adel Hakims Executor 14. Spielt im Monolog die palästinensische Tragödie, den Krieg und den Tod. Der Schauspieler Wuttke spielt's, indem er schreckt. Nach seinem Vortrag darf geglaubt werden, daß Krieg, welcher Stammeskrieg auch immer, nicht mehr anders gespielt werden kann — nurmehr als Erschrecken und nurmehr so wie Wuttke. Nicht mehr als Krieg, wie ihn Ilse Boettcher im zweiten Teil des Abends im Frankfurter Theater am Turm vortrug. Sie sagte Genets Erzählung 4 Stunden in Chatila auswendig auf: mit dem Gestus der Augenzeugin oder einer Kriegsberichterstatterin, wie man ihn von den Medien der Betroffenheit gewohnt ist. Daß uns eine Bilder vorträgt, die rühren wollen, daß jemand plastisch die verstümmelten Hände und verbrannten Gesichter vor Augen führt, das sind angegrauselte Bilder, vollgepumpt mit ästhetischer Qualität.

Das kleine Programmheft zum Frankfurter Doppelabend enthält in der Mitte Bilder des Fotografen Rudolf Schäfer: Visages des morts, Gesichter von Toten, die zu schlafen scheinen, wortwörtlich Entrückte, an denen man sich kaum sattsehen kann und glaubt, daß sie ins Jenseits schauen, schreckenlos. Doch gerade diese Schönheit des Entschlafenseins macht sie schrecklich; ihnen scheint nichts geschehen zu sein. Dagegen die Bilder von Verstümmelten, Erschossenen und von Fliegen im verwesenden Maul — Genet zeigt sie, Demonstrationen menschlicher Scheußlichkeit, vollbrachte Taten namenlos bleibender Mörder: zum Ergötzen. So schön formulierte Wundbrände. So herrlich in Worte gefaßte Ausdünstungen...

Nein, der Schrecken ist anders. Der Schrecken ist plötzlich. Ich hatte das Glück, mit einer blinden Dame bei der Premiere zugegen zu sein. Bei Wuttke zuckte sie ein ums andere mal zusammen, bei Boettcher war sie ob der Mattigkeit der Ausmalungen eines Kriegsfilms enttäuscht. Ein Film, der blindwütig die Kamera auf zerschossene Leiber hält — der Schrecken würde Filmsequenz für Filmsequenz nur schöner und enttäuschender. Monologe dagegen haben den Vorteil, eigentliche Hörstücke zu sein. Man muß ihnen nicht zusehen, das Gesicht nicht in Leichenteile stecken. Für die Todesangst reicht das Gehör.

Es bedarf für den Schrecken nicht der Absehbarkeit der Konflikte, sondern ihrer Plötzlichkeit. Kein anderer beherrscht den Schrecken wie Martin Wuttke. Seine Stimme wendet von einem aufs nächste die Windrichtung, er bleibt ruhig, vage und stampft auf, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Er spricht als Menschlein, dem der Krieg urplötzlich über den Kopf einbrach, dem das Leben von einer Spazierfahrt ums andere zur Hölle wurde, die Welt umstürzt vom Glauben der Stärke wie ein achtlos geknickter Grashalm in ohnmächtige Schwäche. Wuttke tobt und flüstert dazu, er schreit und hält still.

Was ist Krieg anderes? Eine Schweinewut aus apathischer Angst. Angst wie die Tiere. Während Wuttke rast, erzählt er mit diebischer Lust die irrwitzigste Szene, erzählt, wie er in der nächtlichen Verdunkelung das Licht anmacht. Sofort das Geräusch der Einschüsse in sein Zimmer. Licht aus. Totenstille. Licht wieder an. Feuersturm, Fensterklirren, Gewehrsalven. Licht wieder aus. Ruhe im Flur. Aus Angst wird ein Spiel des Mungo mit der Mamba. Wuttke trommelt auf den Eisenboden, Wuttke spricht stimmverzerrt über Mikrophon einen Executor, eine menschliche Tötungsmaschine, als säße er selbst vor einer solchen, eingeklemmt in einer Eisenzelle. Seine Worte hallen, die Scharfrichter vergewaltigen und töten „Mon ami“, er schreit gellend, der Schrei verhallt nicht mehr. Er schmeißt mit Steinen, die dumpf auftreffen, er ächzt: Von einer Sekunde zur anderen wird aus leise laut, nach Bombenwurf tödliche Einsamkeit — eine Geräuschkomposition aus dem Mund eines Schauspielers, der sich auf der Bühne Gehör verschaffen kann, indem er schweigt, und die Ruhe doch trügerisch bleibt. Er könnte jederzeit abrupt noch einmal zu einer neuen Greulichkeit ansetzen, es noch einmal dicke kommen lassen — bis er gänzlich schweigt und die Angst im Ohr von selbst nachhallt. Arnd Wesemann

Executor von Adel Hakim. Mit Martin Wuttke. 4 Stunden in Chatila von Jean Genet. Mit Ilse Boettcher. Regie: Günther Gerstner. Weitere Aufführungen in der Probebühne des Theaters am Turm: 12. bis 15.12., 18. und 19.12., 21. und 22.12.