Mit Tasten, Dröhnrohr und Tonbändern

■ Die Berliner Gesellschaft für Neue Musik eröffnete ein Festival in der Akademie der Künste und zwei Kulturhäusern

Zwei über vierstündige musikalische Marathons eröffneten das erste Festival der jungen »Berliner Gesellschaft für Neue Musik« (BGNM). Der vergangene Freitagabend in der Akademie der Künste war dem Klavier und vorrangig seiner präparierten Version gewidmet, der Samstagabend im Centre Culturel Fran¿ais der Neuen Kammermusik. Und wie das mit Marathons so ist, gab's Starts und Durststrecken, Müdigkeitserscheinungen und Rauschzustände. Und Ausfälle — am ersten Abend war ein Pianist erkrankt, am zweiten ein Geiger auf mysteriöse Weise verschwunden.

Die Eckpfeiler des ersten Abends setzte der italienische Pianist und Komponist Mario Bertoncini mit der Interpretation zweier Klassiker des verfremdeten Flügelklangs: Witold Szaloneks mutanza eröffnete das Festival, John Cages sonatas und interludes beschloß es. Bei ersterem meisterte Bertoncini mit italienischer Finesse die schwierige Verbindung von informeller Faktur und extrem verlangsamtem Puls des Stückes, beim zweiten bevorzugte er ebenfalls die leisen Feinheiten.

Ein eigenes Stück namens Chiffre spielte die Pianistin Maria Goyette, die gleichzeitig zwei Flügel und Elektronik betätigte, nachdem sie zuvor Erhard Grosskopfs minimalistisch orientiertes Klavierstück 1 souverän interpretiert hatte.

Herrmann Keller trat als Interpret seines eigenen Klavierwerks Ex Tempore VI auf, einer Konzeptions- Komposition, die jeweils improvisatorisch zu füllen ist. Erstaunlich, was er da dem Klavier mit allerlei Hilfsmitteln zu entlocken vermag: von Holzblöcken, die — die Baßsaiten des Flügels reibend — hohe singende Töne erzeugen über allerlei Metallteile bis hin zu Jazzbesen und Glockenspielschlegel reichte Kellers Arsenal.

Schließlich stellte sich der amerikanische Pianist Jeffrey Burns am unpräparierten Klavier vor. Er bevorzugt wohl Kompositionen, deren Titel mit seinem Namen zu tun haben: Feuerregen von Gerald Humel beispielsweise und it burns von Christian Kneisel. Humels Stück ist hochvirtuosem Klangzauber verpflichtet, wohingegen Kneisel Anleihen aus Jazz und Rock nicht scheut und in seiner suiteartigen Serie von Miniaturen diese bevorzugt kurz vor dem Höhepunkt einfach abbrechen läßt.

Im Centre Culturel Fran¿ais war Widersprüchlicheres angesetzt: »Komposition — Konzeption — Improvisation«.

Die Improvisation mußte da leider eine klare Niederlage hinnehmen: Nur eine kleine, nette von einer Formation um Herrmann Keller wurde geboten. Die Konzeption hatte an diesem Abend das zeitliche Übergewicht. Da spielte BICE, das »Berlin Improvising Composers' Ensemble« in der ungewöhnlichen Besetzung Cello, Klavier, Flöte, Perkussion und Saxophon dreierlei Stücke, die aleatorische Kompositionstechniken verwenden und neben asiatisch anmutenden Melismen, Jazz- und Rockartigem, südamerikanischen Volksweisen, theatralischen und slapstickhaften Einlagen auch Neue- Musik-Zitate, Elektronik und australische Ureinwohnerklänge bemühen.

Auch Helmut Zapf konzipiert; er läßt sechs schwarzgekleidete Musiker auf zwei Tischplatten mit den Fingern reiben, gemeinsam schmatzen oder pfeifen. Später dürfen sie auch noch ihre Wassergläser füllen, anstoßen, trinken und mit verbleibender Flüssigkeit gurgeln: Tafelmusik. Das gleiche Ensemble, »work in progress«, interpretierte zum Abschluß vor leider nur wenig ausharrenden Zuhörern den Avantgarde- Klassiker Earl Brown mit seiner Zufälle einbeziehenden Komposition Folio, die wenigen Tönen viel Zeit zum Atmen gibt.

Der Höhepunkt des Abend aber war der Auftritt des United Berlin Streichquartetts mit zwei akribisch genau ausnotierten Kompositionen. Jakob Ullmanns Komposition für Streichquartett machte den Anfang, zeigte großen Klangsinn in Flageolet-Akkorden, scheute sich nicht, themenartige Melodiebildungen Geräuschhaftem entgegenzustellen und bewahrte trotz großer Länge Schlüssigkeit. Lachenmanns Quartett Gran Torso, ein Hymnus an die Stille und die leisen Töne — da wirkt bisweilen ein leises Pizzikato im Umfeld von nur das Korpusholz streichenden Bögen wie ein Haydnscher Paukenschlag — steht in solch hervorragender Interpretation wie hier ohnehin jenseits von Gut und Böse.

Des BGNM-Festivals dritter und letzter Teil hatte sich unter dem Leitwort »zugespielt« solistische Musik mit Elektronik zum Sonntagabendprogramm genommen. Im kleinen sympathischen Saal des Hauses der Ungarischen Kultur wurde Vielfältiges geboten: von reiner Tonband- mit-Instrument-Kombination über Live-Elektronik bis hin zu algorhythmischer computergesteuerter Komposition. Der Radiosender DS Kultur übertrug live, was leider unüberhörbar geschah: Einige Tontechniker oder Redakteure verwendeten ihre Funkgeräte entsprechend der Thematik des Abends so, daß niemand ihrem Elektronikeinsatz entgehen konnte: am liebsten funkte und rauschte und kommentierte man in effektvolle Pausen der Musikstücke hinein.

Musikalisch wurde unterdessen vielerlei bewältigt. Die von manchen längst totgesagte Kombination von Tonband und Instrument feierte fröhliche Auferstehung. Spätexpressionistisch klangtrunken wanderte ein Stück für Band und Harfe von Nikolai Badinski daher, dem eine Komposition Helmut Zapfs für die gleiche Besetzung auch in der Dauer nicht nachsteht.

Marc Lingk versuchte sich an dem Zusammenwirken des Magnetbandes mit dem australischen Ureinwohner-Instrument Didjeridu (deutsch: »Dröhn-Rohr«, ein tolles Ding! d.Red.) und Bildern als Partiturergänzung. Aber was, besonders auf dem Band, erklang, vermochte nicht zu überzeugen: Da werden tiefsingende Didjeridutöne zu asymmetrisch rhythmischen Folgen geschnitten und eine Drummaschine darf Rockartiges beisteuern. Martin Olbrisch schrieb für das gleiche Instrument, läßt allerdings die Elektronik weg, versucht statt dessen alte Performancetechniken in die akademischere Komponistenwelt hinüberzuziehen: Ein Interpret stapfte auf zwei an die Füße gebundenen Becken umher und wirbelte dazu bisweilen Kaugummikugeln in einer Plexiglasröhre herum, bis er sich schließlich damit befaßte, diese Röhre, als Didjeridu-Ersatz geblasen, auf Obertonstrukturen zu untersuchen.

Wilhelm Dieter Sieberts bald dreißig Jahre altes Stück für Tonband und Flöte mochte die Frische dieser Kompositionsgattung in den sechziger Jahren in Erinnerung rufen — was er mittels einfachster Technik damals erzeugte, überstrahlte an Poesie bei weitem Neueres, Technik-Geschwängertes.

Auffallend Laurie Schwartz' Beitrag für Saxophon und Live-Elektronik. Ausgefeilte Spielweisen werden in intelligenter Weise durch mehrere Tonabnehmer unterschiedlich hervorgehoben. Obendrein besitzt diese Komponistin die seltene Fähigkeit, sich kurz zu fassen. Eine nicht zu unterschätzende Tugend nach einem Drei-Stunden-Programm. Marc Maier