»Aus der U-Bahn kommt keine Elite«

■ Gedenksymposium zum Tode des Berliner Politologen Richard Löwenthal/ Vorträge zu vielen deutschen Fragen, aber für Diskussionen blieb dabei leider viel zuwenig Raum/ Am Ende ein indirektes Plädoyer für die Elite-Universität

Dahlem. Als »große Stunde der Freien Universität« lobte die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan ein Symposium, das am Wochenende im Otto-Suhr-Institut (OSI) stattfand. Anlaß war der Tod des Politologen Richard Löwenthal im August. Rund 30 internationale Fachleute und Politiker waren eingeladen, um über »Wissenschaft und Politik in öffentlicher Verantwortung — Problemdiagnosen in einer Zeit des Umbruchs« zu sprechen.

Anfang und Ende machten zwei Sozialdemokraten, die ein langer gemeinsamer Weg mit dem Verstorbenen, aber ansonsten nicht allzuviel verbindet: Erhard Eppler und Ex- Kanzler Helmut Schmidt. Der ehemalige Regierungschef sprach vor rund 800 Gästen über »Perspektiven des ausklingenden Jahrhunderts«.

Alle Redner betonten die Hochachtung, die sie immer vor »Rix« Löwenthal gehabt hätten. Dabei fiel auf, daß Rechte wie Linke ihren Respekt vor dem politisch anders Denkenden ausdrückten; niemand schien mit ihm einer Meinung gewesen zu sein. Durchweg beriefen sie sich aber auf sein Wissenschaftsverständnis, das immer »nach der Relevanz für die praktische Politik gefragt« habe, wie Karl Kaiser, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hervorhob. Friedensforscher Ekkehard Krippendorff kommentierte: »Hier muß jeder erst einmal seine ,Löwenthal-Visitenkarte‘ auf den Tisch legen.«

Der Sozialdemokrat Eppler, langjähriger Vorsitzender der SPD- Grundwertekommission, hatte Löwenthal fünfzehn Jahre lang zu seinem Stellvertreter. Eppler bezeichnete in seiner Rede zur »Leistungsfähigkeit der Demokratie« die bestehenden Institutionen der ehemaligen Wohlstands-Verteilungsgesellschaft als »unfähig, die Probleme der inzwischen bestehenden Risikogesellschaft zu lösen«. Parteien, Gewerkschaften, der ADAC und die Bauernverbände beispielsweise hätten den notwendigen Wandel noch nicht vollzogen, auch die Entwicklungspolitik verlaufe noch immer nach wirtschaftlichen Prinzipien: »In Afrika lohnt nicht einmal mehr die Ausbeutung«, provozierte er, die wechselseitige Abhängigkeit sei vielmehr ökologisch und nur indirekt über die Flüchtlinge ökonomisch.

Diese würden zur Zeit in Deutschland zu Sündenböcken gemacht, sagte Hajo Funke, Gastprofessor in Kalifornien: Besonders auf dem »autoritären Resonanzboden der alten DDR« schlage die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher durch »die bewußte und dogmatische Thematisierung des vermeintlichen Asylproblems in Nationalismus und Fremdenhaß um.«

Gegen »deutsche Bescheidenheit« wandte sich die Politikwissenschaftlerin Helga Haftendorn, die militärisches Engagement als »verantwortungsvolle Beteiligung im nordatlantischen Bündnis« forderte. Unterstützt wurde sie von Karl Kaiser und dem ehemaligen Mitglied im US-Sicherheitsrat, Helmut Sonnenfeldt. Bei soviel Einigkeit drohte die Diskussion endgültig langweilig zu werden, war die Referentenreihe doch viel zu homogen besetzt. Doch der Berliner Friedens- und Konfliktforscher Ulrich Albrecht bewahrte vorm Einnicken: Er warf insbesondere Kaiser und Haftendorn vor, die Nato als Antwort zu nennen, ohne »die Frage zu kennen«. Wie Eppler forderte er neue Institutionen, denen zur Lösung der Probleme ein weltoffeneres und toleranteres Denken zugrunde liegen müsse — wie es der Frankfurter Jürgen Habermas der deutschen Gesellschaft jüngst zugestanden habe.

Auch in den USA sei die Beurteilung Deutschlands in der Mehrheit positiv, bestätigte der gebürtige Rumäne Andrei Markovitz, der in Harvard lehrt: »Allerdings gibt es keine Diskussion über Deutschland, bei der nicht der Begriff ‘Auschwitz‚ fällt.« So gebe es nach wie vor »Pessimisten, die nicht wissen, ob man den Deutschen wirklich trauen darf«. Er selber schätze zwar die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik, beobachte aber auch kritisch ihre stärker werdende Vorherrschaft in Europa.

Gegen »zu große Freude über den Sieg des Kapitalismus« wandte sich Pierre Hassner aus Paris; wichtiger sei es darüber nachzudenken, wie man die jetzigen Probleme lösen könne. Und der emeritierte Ossip K. Flechtheim, Verfechter eines eigenständigen sozialistischen Weges für Deutschland, pflichtete ihm bei: »Sicher ist der Sozialismus in einer Krise, aber was bitte ist heute nicht in einer Krise?« Als Utopie bestehe der Sozialismus fort, sagte Flechtheim, den Diskussionsleiter Gerhard Huber als »Instanz des politischen Wissens und des politischen Gewissens am OSI« bezeichnete.

Die Notwendigkeit von Utopien unterstrich auch der Ex-Kanzlerberater und jetzige Bertelsmann-Manager Horst Teltschik. Die Probleme durch den Zusammenbruch der UdSSR machten aber konkrete Überlegungen zu einem kollektiven Sicherheitssystem und einem Wirtschaftshilfeplan für Osteuropa nötig. Außerdem sei an eine »Akte zum Minderheitenschutz« und an die verstärkte europäische Integration zu Denken. Teltschik berief sich bei diesen Forderungungen nach konkreten Lösungen auf Richard Löwenthal, der stets an der Praxis teilgenommen habe.

»Qualifizierte Ausbildung« forderte in Löwenthals Namen der Institutsdekan Hans-Joachim Mengel. Dazu gehöre aber auch die notwendige Betreuung der Studierenden und die entsprechende Ausstattung: »Geistige, demokratische Eliten für eine humane Weltordnung können nicht in einer Umgebung ausgebildet werden, die an die New Yorker U- Bahn und das Finanzamt Mönchengladbach erinnern.« Christian Arns