INTERVIEW: „Der Hodscha ist immer dabei“
■ Die islamischen Bestattungspriester in Istanbul sind eher weltlichen als spirituellen Dingen zugetan
Auf dem alten osmanischen Friedhof Karacaahmet in Istanbul werden auch heute noch Menschen bestattet. Die taz sprach mit einem Totengräber, der seit neun Jahren dort arbeitet. Er wollte anonym bleiben.
taz: Wie werden die Toten in Karacaahmet beerdigt?
A.: Beerdigt wird hier nach dem Mittagsgebet oder nach dem Gebet um 14.20 Uhr. Es gibt verschiedene Arten von Gräbern, die die Angehörigen kaufen können — teure und billige. Wir holen die Toten vom Krankenhaus oder vom Wohnhaus ab und bringen sie hierher. Der Hodscha [islamischer Priester] ist immer dabei. Zuerst wird die Leiche mit Seife gewaschen. Zwei Frauen oder zwei Männer — je nach Geschlecht des Verstorbenen — waschen den Körper. Er muß ganz sauber sein. Anschließend wird er mit Rosenwasser eingerieben. Dazu wird kafurun gegeben, eine Substanz, die Ungeziefer und Schlangen fernhalten soll. Das Leichentuch ist neuneinhalb Meter lang. Die ersten vier Meter sind für das Leichenhemd, der Rest ist für den Sack, in den der Tote eingeschnürt wird.
Welche Funktion hat der Hodscha?
Er spricht vor der Moschee im Stehen ein Gebet. Danach wendet er sich an die Trauergemeinde und fragt: „Gemeinde, als was für einen Menschen kanntet ihr den Verstorbenen?“ Die engsten Freunde sagen daraufhin: „Er war ein guter Mensch.“ Die Angehörigen tragen den Sarg dann zum Grab.
Gibt es Vorschriften darüber, wie die Leiche in die Erde eingelassen werden muß?
Ja, sogar strenge Vorschriften. Das Grab muß nach Mekka weisen. Die Leichen werden bäuchlings ins Grab gelegt. Die rechte Schulter zeigt nach oben. Bei den Männern sind die Hände über dem Bauch, bei den Frauen über der Brust gefaltet. Normalerweise werden die Toten in den Leichenhemden in die Erde eingelassen. Neuerdings sind jedoch bei reichen Familien Särge in Mode gekommen. Doch das ist immer noch die Ausnahme. Der Hodscha liest Suren aus dem Koran. Nach der Beerdigung läßt die Gemeinde den Toten für wenige Minuten mit dem Hodscha allein, denn dann findet das Verhör der Engel statt. Der Hodscha fragt ihn: „Wer ist dein Gott? Was ist deine Religion? Wer ist dein Prophet?“ Der Tote antwortet darauf angeblich. Übrigens kann man am Gesicht des Toten erkennen, ob er in den Himmel kommt: Wenn er die Augen geschlossen und zwei kleine Tränen im Gesicht hat, ist alles in Ordnung.
Sind die Hodschas nur mit dem Jenseits beschäftigt?
Nein, unsere Hodschas sind weit mehr mit dem Diesseits beschäftigt. Die denken schon während des Gebets an das Geld der Angehörigen. Da gibt es Hodschas, die bestatten die Toten am Tage heilig und moslemisch, und nachts machen sie einen drauf. Viele Hodschas sind nur auf das Geld aus. Sie sahnen die dicken Spenden der Trauergemeinde ab. Wenn man hier auf dem Friedhof Hodscha ist, dann ist man ein steinreicher Mann.
Sahnen auch noch andere ab?
Es gibt Leute, die treiben sich den ganzen Tag auf dem Friedhof herum, nur um Trinkgelder zu kassieren. Es genügt, wenn du sagst, daß du den Toten ein paar Meter getragen hast. Es sind Hunderte, die sich so ihr täglich Brot verdienen. Die Trauergemeinden sind ja so naiv. Sie stellen Blumenkränze ans Grab. Nach einer Stunde kommen die Diebe, und die Kränze sind weg. Sie verkaufen sie weiter. Darüber hinaus gibt es Fälle, wo Leichenschänder die Toten ausgraben, um an die Goldzähne zu kommen.
Arbeiten Sie auch nachts auf dem Friedhof?
Ich habe einmal nachts vom Flughafen einen Sarg hierher gebracht. Da habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie sich etwas vom Sarg erhob. Es war ein alter, weißer Mann. Wenn ich nachts Dienst habe, lausche ich den Stimmen. Die Geister öffnen die Hähne an den Brunnen und hinterlassen Spuren im feuchten Boden. Häufiger trifft man jedoch auf Betrunkene, die sich nachts hier herumtreiben. Interview: Ömer Erzeren
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